Was wäre, wenn die Geschichten, die uns seit unserer Kindheit begleiten, weit mehr wären als bloße Unterhaltung? Tauchen Sie ein in die faszinierende Welt der Märchen, einer der ältesten Erzählformen der Menschheit, und entdecken Sie ihre tief verwurzelte Geschichte, ihre verborgenen Bedeutungen und ihre anhaltende Relevanz. Diese tiefgründige Analyse entschlüsselt die Ursprünge des Märchens, von den mündlichen Überlieferungen vergangener Zeiten bis zu den schriftlichen Aufzeichnungen, die sie für die Ewigkeit bewahrt haben. Erforschen Sie die subtilen Unterschiede zwischen Märchen und verwandten Gattungen wie Sagen, Legenden und Mythen, und gewinnen Sie ein tieferes Verständnis für die einzigartigen Merkmale, die jedes Genre auszeichnen. Begeben Sie sich auf eine Reise durch die Epochen, vom Altertum über das Mittelalter bis zur Neuzeit, und erleben Sie, wie sich das Märchen im Laufe der Jahrhunderte verändert und weiterentwickelt hat, stets ein Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Werte. Entdecken Sie die soziale und psychologische Funktion des Märchens, seine Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen zu bewältigen, soziale Kritik zu üben und Kinder auf die Herausforderungen des Lebens vorzubereiten. Analysiert werden die Wesenszüge des europäischen Volksmärchens, von seinem typischen Handlungsverlauf und seinen wiederkehrenden Themen bis hin zu seinem Personal und seinen Requisiten. Es wird untersucht, wie das Märchen zur Kinderliteratur wurde und wie es die Entwicklung des kindlichen Denkens fördert. Dieses Buch ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, die sich für die Geschichte der Literatur, die Psychologie des Erzählens und die zeitlose Kraft der Märchen interessieren. Es ist eine Hommage an die Fantasie, die uns seit Generationen inspiriert und uns auch weiterhin in ihren Bann ziehen wird. Ein Schlüssel zum Verständnis unserer kulturellen Wurzeln und der tiefsten menschlichen Sehnsüchte, bietet neue Einblicke in die Welt der Volksmärchen, Zaubermärchen und Kunstmärchen, die uns seit jeher faszinieren und lehren. Werden Sie Zeuge, wie Konflikte gelöst, Helden geboren und das Gute über das Böse triumphiert, während Sie die verborgenen Botschaften entschlüsseln, die in den zeitlosen Erzählungen von Dornröschen, Rotkäppchen und all den anderen unvergesslichen Figuren verborgen liegen. Eine Reise durch die Magie und die Bedeutung der Märchen erwartet Sie.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Abgrenzung gegen benachbarte Gruppen
1.1. Sage
1.2. Legende
1.3. Mythos
1.4. Fabel
1.5. Schwank
2. Geschichte des Märchens
2.1. Altertum
2.2. Mittelalter
2.3. Neuzeit
2.3.1. Renaissance 16.Jhdt.
2.3.2. Barock 17.Jhdt.
2.3.3. Aufklärung 18.Jhdt.
2.3.4. 19.Jhdt.
3.Verbreitung und Funktion des Märchens
3.1. Mündliche Verbreitung
3.2. Schriftliche Aufzeichnung
3.3. Funktion des Märchens
3.3.1. Soziale Funktion
3.3.2. Psychologische Funktion
4. Entwicklung zum Kindermärchen
5. Wesenszüge und Merkmale des europäischen Volksmärchens
5.1. Handlungsverlauf und Themen
5.2. Personal und Requisiten
5.3. Darstellungsart
Quellenangabe
ENTSTEHUNG VON MÄRCHEN
Die Bezeichnungen Märchen oder Märlein (mhd. maerlîn) sind Verkleinerungsformen zu Mär (ahd. Mâri; mhd; maere, Kunde, Bericht, Erzählung, Gerücht). Die sprachlichen Wurzeln des Begriffs reichen jedoch bis ins Germanische und Gotische zurück. Sie bezeichneten ursprünglich kurze Erzählungen. Diese Begriffe wurden aber wie andere Diminutive eher als abwertend empfunden und wurden auf erfundene und unwahre Geschichten angewendet. Aufgrund der sprachlichen Wurzeln kann nicht nur von einer weiten Verbreitung der Erzählform Märchen ausgegangen werden, sondern auch davon, dass es sich dabei um eine der ältesten Erzählformen der Literatur handelt.
Die Forschung ist sich jedoch unsicher, was Alter und Herkunft der Märchen betrifft. Die Meinungen sind geteilt, wie z.B. manche Forscher die Entstehungszeit mit der Steinzeit oder dem frühen Mittelalter datieren. Ebenso ungeklärt ist die Herkunft die in Indien, Ägypten, Babylon oder Kreta vermutet wird. Wiederum andere sind der Auffassung, Märchen entstünden überall und zwangsläufig, sobald sich der Mensch eine magische Naturvorstellung bildet.
Unsere heutige Vorstellung von Gehalt und Form des Märchens ist weitgehend geprägt von der Märchensammlung der Brüder Grimm, die in 2 Teilen 1812 und 1815 herausgegeben wurde. Zauber, Wunder, Übernatürliches sind allgemein mit dem Begriff Märchen verbunden. Seit den Brüdern Grimm verstehen wir darunter eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung, besonders aus der Zauberwelt, die das Unmögliche mit dem Gewöhnlichem verbindet. Die Geschichten lebten ursprünglich in mündlicher Überlieferung und verbreiteten oft lehrhafte Elemente und moralische Vorbilder.
Das Märchen gehört zur Literaturform der Epik. Man unterscheidet zwischen Volksmärchen und Kunstmärchen. Die typische Form ist das Volksmärchen. Im Gegensatz zu den Kunstmärchen bei denen der Autor sehr wohl bekannt ist, wie z.B. Hans Christian Andersen, bleibt bei dieser Form der Autor anonym.
1. Abgrenzung gegen benachbarte Gattungen
1.1. Sage
Mit dem Begriff Sage werden im weiteren Sinn wirkliche Vorgänge berichtet die sich jedoch von der Realität entfernt haben. Dies kann durch wiederholtes Erzählen, was zu einer charakteristischen Umformung führt (Volkssage, Lokalsage), oder durch bewusste dichterische Gestaltung (z.B. Heldensage) geschehen.
1.2. Legende
Der Sage sehr nahe steht die Legende. Sie erzählt wie die Sage von übernatürlichem Geschehen, das aber im Gegensatz zur Sage, in der Übernatürliches weitgehend ungeklärt bleibt, von einem festen religiösen System gedeutet oder von vornherein darauf hinaus gestaltet wird.
1.3. Mythos
Im Märchen werden Vorgänge auf den Menschen, in Sagen auf den vom Außerordentlichen Getroffenen und in der Legende auf den Träger des Sakralen bezogen. Im Mythos jedoch sind die kennzeichnenden Figuren fast ausschließlich Götter, jedoch auch gottähnliche Heroen.
1.4. Fabel
Die Fabel gehört ebenso zu den Erzählgattungen die über den Rahmen des irdisch Möglichen hinausgehen. Untrennbar verbunden mit dem Begriff der Fabel sind sprechende und handelnde Tiere, Pflanzen, Dinge oder Körperteile.
1.5. Schwank
Der Schwank hat mit dem Märchen nur gemeinsam, dass beide Erzählformen zum Unterschied von realistischen Erzählungen wie Epos, Roman und Novelle Unmögliches berichten. Vom Märchen jedoch trennt den Schwank die Neigung zur Parodie, zur Satire und zur Entstellung. Der Schwank soll zum Lachen bringen, das Märchen nicht.
Das Nebeneinander der verschiedenen Grundformen wie Märchen, Sage, Legende, Mythos oder Schwank bei vielen Völkern und in vielen Epochen führte dazu, diese Erzählformen mit dem Begriff der ,,Einfachen Formen" zusammenzufassen. ,,Dabei handelt es sich um Formen..., die sich, sozusagen ohne Zutun eines Dichters, in der Sprache selbst ereignen, aus der Sprache selbst erarbeiten" (A. Jolles)
2. Geschichte des Märchens
Über die Existenz von Märchen in vorgeschichtlicher Zeit sind nur Vermutungen möglich. Diese Frage gehört aber zur Theorie des Märchens und nicht zu seiner Geschichte. In der Literatur des Altertums hingegen, können jedoch schon Spuren des Märchens gefunden werden.
2.1. Altertum
Aus dem alten Ägypten wurden Erzählungen gefunden, deren Motive wir auch in Märchen finden, die sogar märchenähnlichen Ablauf haben. Die auf Papyrus aufgezeichneten Geschichten sind aber keine eigentlichen Volksmärchen, sondern für die Schicht der Gebildeten bestimmt. Die im 12. Jhdt.v.C aufgezeichnete Erzählung von Wahrheit und Lüge enthält jedoch bekannte, unserem Märchen ähnliche, Züge.
Noch spärlicher sind dem Märchen nahe Färbungen in Texten des alten Babylon, wie dem Gilgamesch-Epos oder der Etana-Erzählung, zu finden. Einen Abglanz des Märchens im alten Israel kann man in den Geschichten von Moses, Joseph oder David spüren.
Im alten Griechenland und Rom findet man in der Literatur Hinweise auf Kinder- und Ammenmärchen und Altweibergeschichten. In griechischen Sagen und Erzählungen existieren Elemente, die nicht nur den Motiven, sondern auch dem Aufbau unseres Märchens zu gleichen scheinen.
2.2. Mittelalter
Auch in der aus dem Mittelalter überlieferten Literatur kann man märchenhafte Elemente finden, die als Hinweis für die Existenz von Volksmärchen aufgefasst werden können. Märchenmotive aus der Edda können jedoch ebenso gut aus Mythen oder Sagen stammen. In der aus dem frühen Mittelalter überlieferten lateinischen Literatur findet man Geschichten, die als Schwankmärchen definiert werden können. Im Spätmittelalter erscheinen stark märchenhafte Motive, enthalten in Sammlungen von Predigtbeispielen.
Aus dem Orient, verbreitet über Byzanz und Spanien, sowie durch Kreuzzüge, erreichten orientalische Erzählungen wie das indische Pancatantra das europäische Abendland. Weitaus stärker als durch indische und orientalische Erzählungen wurde die europäische Literatur durch keltische Geschichten beeinflusst.
2.3. Neuzeit
2.3.1. Renaissance 16.Jhdt.
Aus dem 16.Jhdt. ist weitaus mehr überliefert als aus Altertum und Mittelalter. Verschiedene Aschenbrödelvarianten in Deutschland, Frankreich und Portugal weisen auf die sichtliche Existenz und weite Verbreitung von Volksmärchen hin. Auch Hinweise auf andere Märchennamen werden immer häufiger. Das Erscheinen von ,,Ergötzlichen Nächten" von G.
F. Straparola, eine Sammlung von 73 aus mündlicher Überlieferung stammenden
Erzählungen, von denen 21 als Märchen definiert werden können, kann man als Hauptereignis in der Geschichte des Märchens bezeichnen.
2.3.2. Barock 17.Jhdt.
Im 17.Jhdt. trug vor allem die italienische Literatur mit dem ,,Pentamerone" unter dem Titel ,,Das Märchen aller Märchen, oder Unterhaltung der Kinder" von G. Basile zum Bestand des Volksmärchens bei. Vorbild dieser Rahmenerzählung ist Boccaccios ,,Decamerone". In dem meisten seiner Erzählungen sind Parallelen zu der Märchensammlung der Brüder Grimm zu entdecken. Von einigen Märchen erscheint in seiner Sammlung die älteste bekannte Vollform. Es ist anzunehmen, dass Basile die Geschichten durch mündliche Überlieferung kennen lernte und sie später, durchsetzt von typisch barocken Wortvariationen, Allegorien und Schnörkel, weitererzählte und niederschrieb.
Als Beweis für die Existenz von Märchen in Deutschland gilt z.B. die Erzählung des Bärenhäuters in den ,,Simplicianischen Schriften" von Grimmelshausen. Weiters waren Predigtmärlein, Mirakelgeschichten, Fabeln, Schwankmärchen und Liebesgeschichten beliebt.
Im Gegensatz dazu fanden Zaubermärchen keine große Verbreitung. Sie waren offenbar weder als moralische Beispiele noch zur Unterhaltung zu gebrauchen. Ende des 17.Jhdt. gab der französische Schriftsteller Charles Perrault sieben gesammelte Volksmärchen, wie Dornröschen, Rotkäppchen oder Frau Holle, heraus. Er erzählte in einem naiven, halb ironischen Tonfall und benutzte im Gegensatz zu den Barockdichtern eine einfache Sprache.
Großer Beliebtheit erfreuten sich auch die sogenannten Feenmärchen, die aus einer phantastischen Kombination von orientalischen Erzählungen und eigener Erfahrungen stammten.
2.3.3. Aufklärung 18.Jhdt.
Wenige Jahre nach Herausgabe der Perraultschen Märchen veröffentlichte J.A.
Galland ,,Tausend und eine Nacht auf französisch". Diese 10 Bände basierten auf einer aus dem 14.Jhdt. stammenden arabischen Handschrift und mündlichen Erzählungen eines syrischen Maroniten. Diese freie Bearbeitung hatte großen Erfolg und wenig später veröffentlichten F. Pétis de la Croix und Le Sage nach persischen Manuskripten ,,Tausend und eine Nacht". Die Folge war eine Flut von pseudoorientalischen Schriften. Um das geheime Bedürfnis nach Phantastischem und Wunderbarem zu befriedigen, waren diese Erzählungen genauso wie die stark verbreiteten Feengeschichten gut geeignet.
2.3.4. 19.Jhdt
Das entscheidende Ereignis in der Geschichte des deutschen Volksmärchens war zweifelsohne die Herausgabe der gesammelten ,,Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm. Die Veröffentlichung einer derartigen Sammlung hatte zwei wichtige Folgen. Das lange Zeit verachtete Volksmärchen wurde nun gesellschafts- und buchfähig gemacht. Eine weitere wichtige Folge war, dass nun in ganz Europa nach Vorbild der Brüder Grimm Volksmärchen aufgezeichnet und veröffentlicht wurden. Damit wurden zwar einerseits viele, schon in Vergessenheit und somit dem Untergang geweihten Märchen gerettet, andererseits trat das Buch anstelle der mündlichen Erzählung von Generation zu Generation.
3. Verbreitung und Funktion von Märchen
3.1. Mündliche Verbreitung
Zuerst wurden Märchen durch mündliche Erzählung überliefert. Die meisten der uns bekannten Märchen haben keinen Autor oder einen einzelnen Urheber. Man geht davon aus, dass jede soziale Gemeinschaft über einen bestimmten Märchen-Schatz verfügt, der durch besonders begabte Erzähler weitergegeben und auch verändert wird. Die Folge ist die Mitgestaltung vieler Menschen. Märchen behandeln meistens Themen und Situationen, die viele Menschen betreffen und wichtig sind. Nach und nach wurde das allzu persönliche der Helden herausgefiltert um die Märchen so der Allgemeinheit noch zugänglicher zu machen. Die Bilder die vermittelt werden sind daher kein persönlicher, sondern ein allgemein menschlicher Ausdruck von Gefühlen. Märchen sind sozusagen ,,von der Menschheit an die Menschheit" gerichtet.
3.2. Schriftliche Aufzeichnung
Ab dem 17.Jhdt. begann man mündliche Überlieferungen aufzuzeichnen und zu veröffentlichen. Bis zu diesem Zeitpunkt kann nur aus der Literatur Rückschlüsse auf die Existenz und Form von Märchen gezogen werden. Ein bedeutendes Ereignis war sicherlich die Veröffentlichung der Grimmschen ,,Kinder- und Hausmärchen". Ein positiver Faktor der schriftlichen Aufzeichnung war zweifelsfrei die Rettung in Vergessenheit geratene Märchen. Jedoch trug die schriftliche Fixierung dazu bei, dass die Erzählungen von diesem Zeitpunkt an der mündlichen Weitergabe entzogen und somit unveränderlich waren. In den nun aufgezeichneten Erzählungen war die ständigen Angleichung, die das Märchen an örtliche Gegebenheiten und historische Veränderungen anpasste, nicht mehr wirksam. So entfernt sich schriftlich festgehaltene Märchen immer weiter von seinem Leser, der sich wie seine Umgebung ständig ändert. Alltägliche Lebensumstände der Helden wirken nun fremd und phantastisch.
3.3. Funktion des Märchens
3.3.1. Soziale Funktion
Ursprünglich sind Märchen Geschichten für Erwachsene, da es in Zeiten ohne Medien keine andere Form der ernsthaften Auseinandersetzung mit einem wichtigen Thema gab. Sie dienten dazu, Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu helfen und waren eigentlich nur zweitrangig zur Unterhaltung gedacht. Das Märchen ist oft ein Kontrastbild zur wirklichen Welt. Durch die ,,Seinsollensdichtung" zeigt es, wie es in der Welt eigentlich zuzugehen habe. Aber auch versteckte Sozialkritik ist oft zu erkennen. Sie verbindet Seinsollensdichtung mit einer Kennzeichnung schlechter sozialer Zustände.
Das europäische Zaubermärchen drückt den Wunsch der unterdrückten, ländlichen Bevölkerung in der feudalistischen Epoche nach einem freien und glücklichen Leben. Die hoffnungslose Anfangssituation des benachteiligten Helden spiegelt die aussichtslose Lage der Bevölkerung wieder. Die Lösung des Konflikts geschieht nicht durch Aktivität des Helden sondern durch Hilfe von außen.
Schwankmärchen, handeln vor allem von den städtischen Unterschichten wie Handwerksgesellen und Wanderburschen. Hier versucht der Held alltägliche Konflikte durch List und Klugheit, oder ins Gegenteil gekehrt, durch besondere Dummheit zu meistern.
Das eigentliche Glück liegt in der Lösung des Konfliktes. Die natürliche Ordnung wird vom Held wieder hergestellt, die zu Beginn gestört war. Das Märchen hilft bei der Lebensbewältigung, weil es mit den realen Erfahrungen der Erzähler und Hörer eine Welt vereint, die optimistisch, phantastisch und durch Wunder bestimmt wird, da keine andere Möglichkeit zu Lösung der Konflikte des alltäglichen Lebens besteht.
3.3.2. Psychologische Funktion
Das eigentliche Leben des Märchens findet heute in der Kinderstube statt. Um sich mit dem gegenwärtigen Leben des Märchens als Psychologe zu beschäftigen, muss man nach dem Verhältnis des Kindes zum Märchen fragen.
Worauf beruht die Empfänglichkeit und Faszination des Kindes auf das Märchen also? Schon rein formal entspricht das Märchen den Bedürfnissen des kindlichen Denkens. Es ermöglicht wie keine andere Erzählform die Übung des Vorstellungsmechanismus. An seinen plötzlichen Übergängen (groß-klein, Versetzung an einen anderen Ort, Umschlagen in die Gegensituation etc.) kann das Kind, mit oft lebhaftem Vergnügen, die Fertigkeit und Gewandtheit des Vorstellens üben. Da das Kind jede Einzelheit mit großer Gefühlsintensität erlebt, genügt ihm die bloße Nennung von Figuren und Vorgängen. Zusätzlich dazu halten sich Wiederholung und Variation die Waage und es herrscht ein Gleichgewicht zwischen Bekanntem und Unbekanntem. Das Ungewöhnliche, das Wunderbare beschäftigt den Geist des Kindes. Wunsch und Gerechtigkeitsbedürfnis kommen auf die Rechnung, das Gute siegt.
Märchen helfen die Eigenen Entwicklungsschwierigkeiten zu bewältigen und stärken die kindliche Bereitschaft, sich dem Übermächtigen zu stellen. ,,Märchen sind nicht grausam, sie bereiten auf das Grausame im Leben vor." ,,Kinder, die dem Märchen nicht begegnet sind, trifft das Grausame im Leben unvorbereitet." (Wittgenstein, ,,Märchen, Träume, Schicksale")
4. Entwicklung zur Kinderliteratur
Erzählungen in Art des Zaubermärchens gehören zu den ältesten Überlieferung der Menschheit. Sie gehören zum Kulturbesitz jedes Volkes. Was ehemals Eigentum ganzer Gesellschaften bzw. bestimmter sozialer Schichten war, gehört heute selbstverständlich der Kinderliteratur an. Den Naturvölkern, welche die Wirklichkeit immer noch in ihren Märchen abgebildet sehen, sind Kindermärchen fremd. Erst als die Märchen im Bewusstsein der Menschen sich zu unglaubwürdigen Geschichten wandeln, werden sie für Kinder zugänglich gemacht und für sie erzählt. Schon sehr frühe, abschätzige Hinweise in der deutschsprachigen Literatur über Ammenmärchen deuten darauf hin, dass das aufgeklärte Bürgertum Märchen als geringgeschätzt, bestenfalls als Kindererzählungen akzeptiert wurden. Durch die zahlreichen Märchensammlungen nach den Brüdern Grimm kann jedoch auf den Fortbestand der Märchen in den Unterschichten geschlossen werden.
Durch den Titel der Erstausgabe der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen lässt sich darauf schließen, dass das Bürgertum bereits zu Beginn des 19.Jhdt. das Märchen als Kinderlektüre einstufte. Trotz der Bedenken W. Grimms wurde eine stärkere pädagogische Bearbeitung der Märchen für Kinder gefordert. Die folgenden bearbeiteten Auflagen wurden zu einem grundlegendem Werk der nationalen und internationalen Kinderliteratur. Der Inhalt der Bearbeitung war vor allem die Entschärfung sexueller Symbolik, Milderung in der Darstellung sozialer Konflikte und stärkere Propagierung bürgerlich-ethischer Werte. Das Ergebnis war ein stilistisch kunstvolles und ideologisch einheitliches Werk, dass auf bürgerliche Kinder zugeschnitten war.
Die Grimmschen Märchen wurden immer weiter in die bürgerliche Erziehung der Kinder integriert. Es fand bald Eingang in die Schullesebücher, wo sie heute noch zu finden sind. Trotzdem wurden sie in der ersten Hälfte des 19.Jhdt. als Literatur für bäuerliche und proletarische Kinder abgelehnt, da sie gefährliche Phantasien erweckten. ,,Man hüte sich, in den Kinderherzen Wünsche zu erwecken, die das Leben nicht gewähren kann , in die Kinderbrust ein Sehnen einzupflanzen, welches sie mit den gegebenen Verhältnissen unzufrieden macht" (Anweisung über die in ,,Kinderbewahranstalten" zu verwendende Literatur; zit. nach Richter/Merkel)
5. Wesenszüge und Merkmale des europäischen Volksmärchens
Auch wenn die Eigenart jedes Volkes und jeder Epoche den Stil der Erzählungen beeinflusst, so kann man doch von einem Grundtyp des europäischen Volksmärchens sprechen. Ein Vergleich der in den letzten Jahrhunderten zutage getretenen Märchen zeigt über die nationalen, zeitlichen und individuellen Verschiedenheiten hinweg, gewisse gemeinsame Züge. Man kann jedoch nur von einem Idealtyp sprechen. Das europäische Volksmärchen ist hauptsächlich durch Neigung zu einem bestimmten Personal, Requisitenbestand und Handlungsablauf sowie zu einem bestimmten Stil gekennzeichnet.
5.1. Handlungsverlauf und Themen
Das allgemeine Schema, des europäischen Volksmärchens ist ein Konflikt und dessen Lösung. Schwierigkeiten und deren Bewältigung sind Kernvorgänge des Märchens. Dazu gehört der stets gute Ausgang, der ein weiteres Charakteristikum des Märchens darstellt. Die Ausgangslage ist ein Mangel oder eine Notlage, eine Aufgabe, ein Bedürfnis oder andere Schwierigkeiten, die bewältigt werden müssen.
Inhaltlich werden in fast jedem Märchen wesentliche menschliche Verhaltensweisen und Unternehmungen dargestellt: Kampf, Stellen und Lösen von Aufgaben, Intrige und Hilfe, Schädigung und Heilung, Mord, Gefangensetzung und Befreiung, Werbung und Vermählung, sowie Berührung mit den zauberischen und jenseitigen Mächten. Zu den Themen zählt auch Widerstreit von Schein und Sein, Verkehrung der Situation in ihr Gegenteil und Sieg des Kleinen über den Großen. Paradoxien und Ironie ist für das Märchen charakteristisch.
5.2. Personal und Requisiten
Hauptträger der Handlung sind Held oder Heldin, die beide der menschlich- diesseitigen Welt angehören, sowie ihre Gegner. Dazu treten typische Figuren wie Auftraggeber, Helfer, Neider und von Held/in gerettete, befreite oder sonst wie gewonnene Personen. Alle wichtigen Figuren stehen in Zusammenhang mit dem Held. Gegner oder Helfer sind oft, im Gegensatz zu Held selbst, Mitglieder der außermenschlichen Welt.
An Stelle der zu gewinnenden Person kann aber auch ein Ding stehen, wie das Lebenswasser, ein Ring oder ein Schlüssel. Hauptrequisit ist aber die Gabe, de den Helden zur Lösung seiner Aufgabe instand setzt.
Personen und Dinge des Märchens sind im allgemeinen nicht individuell. Handelnde Personen bekommen nie Eigennamen. Oft werden aber neue Namen definiert, die maßgebliche Eigenschaften hervorheben und in direktem Bezug zur Person stehen. Viele Personen werden lediglich auf ihren Beruf hin bezeichnet. Die Helden wurden mit beliebten und weit verbreiteten Allerweltsnamen wie Hans genannt. Mit dem russische Name Iwan bezeichnet man den Russen schlechthin, der deutsche Hans wurde fast zum Gattungsnamen.
Die handelnden Personen haben keinen individuellen Charakter, sonder treten als Typen auf. So wie die ganze Welt des Märchens in schwarz und weiß gezeichnet ist, so scheiden sich auch seine Figuren scharf in gut und böse, schön und hässlich, vornehm und niedrig, usw. Die aufgezählten Kontraste zeigen, dass vom König über die fleißige Bäuerin bis zum Schweinehirten die wesentlichen Erscheinungen der menschlichen Welt umspannt werden. Zu den diesseitigen Personen treten zusätzlich noch der Über- und Unterwelt angehörigen Wesen wie Hexen, Feen und Zauberer. Nicht nur Personen sondern auch Dinge können der Alltags- oder der Zauberwelt angehören. Aber es handelt sich wiederum nur um allgemeine Repräsentanten der Dingwelt.
Im Gegensatz zu den mitteleuropäischen Märchen, in denen Naturgeister wie Feen, Trolle, Gnome oder Salamander im allgemeinen eher selten bzw. alleine vorkommen, finden sie vor allem in den nordischen Märchen große Verbreitung. Dem mittelalterlichen Menschen erschien die noch nicht gebändigte Natur, besonders die undurchdringlichen Wälder, von seltsamen, meist unsichtbaren Naturwesen bevölkert. Das Resultat dieser Vorstellungen war eine große Vielfalt an Naturgeistern, ganze Heere von Elfen und Zwergen lebten in den Geistern der Menschen.
So spiegeln nicht nur Handlungen, sondern auch Gestalten und Dinge des Märchens die Welt des Menschen. Personen und Requisiten gewöhnlicher und übernatürlicher Art haben ihren festen Platz im Märchen.
5.3. Darstellungsart
Das europäische Märchen neigt zum raschen Fortschreiten der Handlung und nur zur knappen Benennung der Figuren und Requisiten. Auch Beschreibungen und Schilderungen der Umwelt oder Innenwelt seiner Gestalten sind selten. Die meist einsträngig geführte Handlung gibt dem Märchen Bestimmtheit und Klarheit. Um dies Klarheit noch zu betonen kommt die Vorliebe für alles klar Ausgeprägt überhaupt: Metalle, Mineralien, Extreme und Kontraste, Verbote, Bedingungen und Tests sowie Lohn und Strafe.
Beliebte Farben des Märchens sind rot, weiß und schwarz, ferner noch golden und silbern, was auf Freude am Metallischen hinweißt. Aber nicht nur Gegenstände können metallisch sein. Auch Wälder, Kleider und Haare könne kupfern, silbern und golden sein. Diese Mineralisierung und Metallisierung bedeutet die Verfestigung der Ding, ihre Härte und Kostbarkeit heben sie aus ihrer Umgebung heraus. Das Märchen lässt auch seine Figuren einzeln auftreten, während die Sage oft vom Volk der Zwerge oder vom Zug der Geister spricht. Im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass das Märchen das Extrem allen Mittel- oder Zwischenzuständen vorzieht.
Aufgaben, Verbote, Bedingungen, Ratschläge und Hilfen aller Art bezeugen, dass die Handlung nicht von innen, vom Helden selbst, sondern von außen gelenkt wird. Innenleben und Umwelt der Figuren spielen ebenso geringe Rolle wie die Regionen, in denen die Jenseitsfiguren ihren Platz haben. Nur was auf die Ebene der Handlung tritt, wird sichtbar. Statt des Ineinander und Miteinander herrscht das Nebeneinander und Nacheinander.
Quellenangabe
Und wenn sie nicht gestorben sind...Perspektiven auf das Märchen; Helmut Brackert; SV Märche n; Max Lüthi; J.B. Metzler Verlag
Häufig gestellte Fragen
Was ist der Unterschied zwischen einem Märchen und anderen verwandten Gattungen wie Sage, Legende, Mythos, Fabel und Schwank?
Das Märchen unterscheidet sich von anderen Erzählformen durch seine Inhalte und Darstellungsweisen. Die Sage berichtet von realen Vorgängen, die sich von der Realität entfernt haben. Die Legende erzählt von übernatürlichem Geschehen, das durch ein religiöses System gedeutet wird. Der Mythos handelt hauptsächlich von Göttern und gottähnlichen Heroen. Die Fabel verwendet sprechende Tiere oder Dinge, um eine Lehre zu vermitteln. Der Schwank hingegen zielt auf Parodie und Satire ab, um zum Lachen zu bringen, im Gegensatz zum Märchen.
Wie hat sich das Märchen im Laufe der Geschichte entwickelt?
Spuren von Märchen finden sich bereits im Altertum, beispielsweise in ägyptischen Erzählungen. Im Mittelalter gab es märchenhafte Elemente in der Literatur, die jedoch auch aus Mythen oder Sagen stammen konnten. Die Neuzeit brachte Sammlungen von Märchen hervor, wie die "Ergötzlichen Nächte" von Straparola und das "Pentamerone" von Basile. Das entscheidende Ereignis war jedoch die Herausgabe der "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm im 19. Jahrhundert.
Welche Rolle spielen mündliche Überlieferung und schriftliche Aufzeichnung bei der Verbreitung von Märchen?
Ursprünglich wurden Märchen mündlich überliefert, wobei begabte Erzähler den Märchenschatz weitergaben und veränderten. Ab dem 17. Jahrhundert begann man, diese mündlichen Überlieferungen aufzuzeichnen und zu veröffentlichen. Die schriftliche Aufzeichnung rettete viele Märchen vor dem Vergessen, führte aber auch dazu, dass sie nicht mehr so stark an örtliche Gegebenheiten und historische Veränderungen angepasst wurden.
Welche soziale und psychologische Funktion haben Märchen?
Märchen hatten ursprünglich eine soziale Funktion für Erwachsene, indem sie bei der Auseinandersetzung mit wichtigen Themen halfen und Kontrastbilder zur Realität darstellten. Sie kritisierten oft soziale Zustände und drückten den Wunsch nach einem besseren Leben aus. Psychologisch gesehen helfen Märchen Kindern, ihre Entwicklungsschwierigkeiten zu bewältigen und sich dem Übermächtigen zu stellen. Sie fördern die Vorstellungsfähigkeit und stärken das Gerechtigkeitsbedürfnis.
Wie hat sich das Märchen zur Kinderliteratur entwickelt?
Märchen, die einst Eigentum ganzer Gesellschaften waren, wurden im Laufe der Zeit der Kinderliteratur zugeordnet. Dies geschah, als sie im Bewusstsein der Menschen zu unglaubwürdigen Geschichten wurden. Die Brüder Grimm trugen maßgeblich dazu bei, dass das Märchen im Bürgertum als Kinderlektüre akzeptiert wurde. Ihre Sammlungen wurden pädagogisch bearbeitet und fanden Eingang in Schullesebücher.
Welche Wesenszüge und Merkmale hat das europäische Volksmärchen?
Das europäische Volksmärchen zeichnet sich durch einen Konflikt und dessen Lösung aus, stets mit einem guten Ausgang. Es werden menschliche Verhaltensweisen und Unternehmungen dargestellt, wie Kampf, Intrige, Hilfe und Vermählung. Typische Figuren sind Held/in, Gegner, Helfer und gerettete Personen. Das Märchen neigt zum raschen Fortschreiten der Handlung und zur knappen Benennung der Figuren und Requisiten. Es bevorzugt klare Kontraste und Extreme.
Was sind typische Themen im europäischen Volksmärchen?
Typische Themen sind der Kampf, das Stellen und Lösen von Aufgaben, Intrige und Hilfe, Schädigung und Heilung, Mord, Gefangenschaft und Befreiung, Werbung und Vermählung, sowie die Berührung mit zauberischen und jenseitigen Mächten. Auch der Widerstreit von Schein und Sein, die Verkehrung der Situation ins Gegenteil und der Sieg des Kleinen über den Großen sind häufige Themen.
Welche Darstellungsart ist typisch für das europäische Volksmärchen?
Das europäische Märchen neigt zum raschen Fortschreiten der Handlung und zur knappen Benennung der Figuren und Requisiten. Beschreibungen der Umwelt oder Innenwelt der Gestalten sind selten. Die Handlung ist meist einsträngig und klar. Vorlieben bestehen für klare Extreme und Kontraste, sowie für Metalle und Mineralien. Aufgaben, Verbote, Bedingungen, Ratschläge und Hilfen lenken die Handlung von außen.
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- Andrea Bichler (Author), 2000, Märchen - Die Entwicklung von Märchen, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/98375