In der vorliegenden Arbeit wird die Autismus-Spektrum-Störung mit Bezugnahme auf Ursachen, Diagnostik und Therapiemöglichkeiten, mit dem Ziel einen Einblick in das Phänomen der AS-Störung zu erhalten, dargestellt.
Um die Sozialisation von ASS-Betroffenen in der Öffentlichkeit und im Familienleben zu thematisieren, wird zum einen eine Fallstudie, die die Umgebungsgestaltung und den Umgang mit einer ASS, ohne Druck und mit Rückzugsmöglichkeiten, thematisiert, zum anderen als Gegensatz zu dieser eine Fallstudie zu Greta Thunberg, die mit Druck und Erregungssteigerungen, welche vom Overload bis zum Shutdown führen, sowie Erfahrungen und Regelungen in der Schule, herangeführt. Nicht nur innerhalb der Familie ergeben sich Probleme für ASS-Betroffene, sondern auch im Bildungskontext treten häufig Barrieren auf. Probleme die auftreten können, sowie Bildungsmöglichkeiten werden in den Kapiteln schulische Bildung der Betroffenen und Arbeitswelt von Autisten herangeführt. Diese Struktur soll dem Leser einen Eindruck in das Leben von Autisten und die sich aus der Krankheit ergebenden Chancen, sowie Herausforderungen in den Bereichen Erziehung, Bildung und Sozialisation ermöglichen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Autismus-Spektrum-Storung
2.1 Kategoriales vs. dimensionales Modell
2.2 Komplexitat des Krankheitsbildes
2.3 Erklarungsmodelle
2.3.1 Funktionen der Spiegelneuronen
2.3.2 Funktionen des Belohnungssystems
2.3.3 Die genetische Grundlage
2.4 Erregungszustande
2.4.1 Die Ubererregung: der Overload
2.4.2 Hilfe durch Selbsthilfegruppen
2.4.3 Binnenstruktur der Selbsthilfegruppe
2.4.4 Die Bedeutung des sozialen Raumes fur den Erregungsverlauf
2.4.5 Traumatisierung durch Overload, Meltdown und Shutdown
2.5 Schwerpunkt: Asperger-Syndrom
2.5.1 Einfuhrende Ubersicht der moglichen Symptome
2.5.2 Erste Interventionsmoglichkeiten: Psychoedukation
3. Mogliche Ursachen der ASS: Stand der Forschung
3.1 Neues Forschungsfeld: Die Proteomik
3.2 MRT und andere bildgebende Verfahren
4. Therapie
5. Sozialisation der Betroffenen
5.1 ASS aus der Innensicht und allgemeine Offentlichkeit
5.1.1 ASS und der individuelle soziale Raum: Fruhe Bezugspersonen
5.1.2 Qualifizierte Laien und Fachpersonal
5.1.3 Beispiel aus der Praxis: Rolle der qualifizierten Laien
5.2 Fallbeispiel - Sozialisation aus der Innenansicht der Betroffenen
5.2.1 Sechs Stufen zur Holle
5.3 Einfache PraventionsmaBnahmen
6. Autismusspezifische Forderung
6.1 Theoretische Grundlage: Theory of Mind
6.2 Ein konkretes Programm
6.3 TEACCH-Konzept
6.4 Schema-Therapie
6.5 Umsetzung therapeutischer MaBnahmen
6.6 Kritik zu therapeutischen Erfahrungen
6.6.1 Hilfe ist moglich I: Aber nicht auf diese Art
6.6.2 Hilfe ist moglich II: Die Perspektive ist entscheidend
6.6.3 Perspektivwechsel
6.7 Neue Forschungsansatze
6.8 Schlussfolgerung
7. Sozialisation in der Familie: Die Familie als Mikrokosmos
7.1 Der Fall Thunberg: Eine Annaherung
7.2 Katastrophendenken, Angst- und Panikattacken
7.3 Depression und andere primare Komorbiditaten
7.4 Wahrnehmungs- und Denkstorungen
7.5 Opferbewusstsein und stabile Feindbilder
7.6 Der Tunnelblick und seine Folgen
8. Schulische Bildung der Betroffenen
8.1 Rechtliche Grundlagen
8.2 Autismuspezifischer Schwerpunkt
8.3 Nachteilsausgleich fur Betroffene mit einer ASS
8.4 Schulbegleiter
8.4.1 Arbeitsbereiche des Schulbegleiters
8.4.2 Beantragung des Schulbegleiters
8.5 Schulische Inklusion
8.5.1 Inklusive schulische Forderung bei Schulern mit ASS
8.6. Schulische Situation in Hessen
8.7 Studieren mit einer Autismus-Spektrum-Storung
8.7.1 Inklusives Studium
9. Arbeitswelt von Autisten
9.1 Autismus-Spektrum-Storung im Beruf - Studien
10. Fazit und Ausblick
11. Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Korpererregung bei neurotypischen Menschen (S. 8)
Abb. 2: Integratives Modell zur schulischen Forderung bei Schulern mit Autismus (S. 69)
Abkurzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Allgemeiner Hinweis:
Aus Grunden der besseren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit stellenweise die gewohnte mannliche Sprachform bei personenbe- zogenen Pronomen und Substantiven verwendet. Im Sinne der sprachlichen Vereinfachung dient dies als geschlechtsneutral und soll keine Benachteiligung des weiblichen Geschlechts implizieren.
1. Einleitung
Nicht erst seit dem Erscheinen Greta Thunbergs in der Offentlichkeit wird das Thema ASS (Autismus-Spektrum-Storung) diskutiert. Bereits im Jahr 1943 beschrieb Leo Kanner das Phanomen Autismus (vgl. Pickren 2018, S. 284). Sein Erklarungsansatz scheint heute jedoch in groBen Teilen uberholt bzw. abwegig, muss aber aus dem Kenntnisstand und der herrschenden Lehrmeinung seiner Zeit verstanden werden. Nach damaliger Auffassung waren die ersten Bindungserfahrungen des Neugeborenen sehr stark pra- gend fur das spatere Verhalten des Menschen. Die Pragung durch die Mutter, nach Konrad Lorenz, sei der entscheidende Faktor fur die weitere Entwicklung des Neugeborenen, so seine Auffassung (vgl. Pickren 2018, S. 322). Kanners Theorie zur Entstehung von Autismus beruht auf der Mut- maBung, dass autistischen Kindern zu wenig Liebe und Zuneigung als Grundlage eines gesunden Bindungsverhaltens zur Mutter entgegen ge- bracht wurde, die Kinder vielleicht sogar unerwunscht gewesen seien (vgl. Mahler 2007, S. 82). Nach Margaret Mahlers Auffassung befindet sich das Kind nach der Geburt im Zustand eines normalen Autismus. AuBere Reize wurden es nicht erreichen, es sei lediglich ein physiologischer Organismus und unterscheide lediglich zwischen lustvollen guten und unlustvollen bo- sen Empfindungen (vgl. ebd.). Einen ahnlichen Ansatz verfolgte Bruno Bet- telheim, wobei er als Entwicklungspsychologe einen psychoanalytisch ori- entierten Ansatz wahlte. Er pragte in der Folge von Kanner den Begriff der Kuhlschrankmutter, deren emotionale Kalte das Kind zu spuren bekame. Um sich selbst zu schutzen, so Bettelheim, ziehe sich das Kind in eine Art emotionale Muschel zuruck, aus der es spater als verinnerlichtes Verhal- tensmuster nicht mehr entkommen konne (vgl. Pickren 2018, S. 284).
Diese Auffassung fuhrte auch zu einigen Therapieansatzen, die den analy- tischen Teil Bettelheims hinter sich lieBen. Interpretationen, die dem Beha- viorismus zuzuordnen sind, wie Belohnung und Strafe oder das Token-Inventar, zeigten Erfolge und schienen somit Kanners Ansatz zu bestatigen (vgl. ebd.).
Der Begriff Autismus als solcher stammt allerdings von dem Schweizer Psychologen und Psychiater Eugen Pleuler aus dem Jahr 1911. Pleuler verwandte diese Bezeichnung jedoch fur Menschen, die an Schizophrenie litten und sich durch eine abnorme Selbstbezogenheit und starken sozialen Ruckzug auszeichneten. Der heutige Gebrauch des Begriffes ist dieser je- doch auf Hans Asperger und Leo Kanner zuruckzufuhren. Asperger und Kanner definierten das Syndrom des fruhkindlichen Autismus als eigenes Krankheitsbild, sodass dieses als solches heute anerkannt ist (vgl. May 2001).
Welches Bild herrscht heute von ASS vor? Man spricht heute nicht mehr von dem isolierten Begriff des Autismus. Man praferiert den Ausdruck der Storung aus dem autistischen Formenkreis oder einer Storung im Autis- mus-Spektrum (ASS oder ASD= Autism Spectrum Disorder). Statt einer kategorialen Sicht der Symptome (vorhanden vs. nicht vorhanden, normal vs. abnorm) hat sich eine der dimensionalen Diagnostik entsprechenden Sicht und Beschreibung durchgesetzt. Ein Symptom ist entweder schwach oder stark ausgepragt. Diese Betrachtungsweise erlaubt ein sehr differen- ziertes Bild des Phanomens ASS. Damit verbunden ist dann auch die Entwicklung vielfaltigerer therapeutischer Interventionsmoglichkeiten (vgl. Kiermeier 2018).
Allgemein geht man, was die psychotherapeutische Seite betrifft, von ei- nem klinischen Bild von ASS/ASD aus. Ein klinisches Bild umfasst alle Be- obachtungen, die ein Arzt nach Anamnese und Diagnose an abweichen- dem Verhalten beobachten kann. Im Fall ASS/ASD gilt als abweichend, was nicht der neurotypischen Norm entspricht (vgl. ebd.).
In der vorliegenden Arbeit wird die Autismus-Spektrum-Storung mit Bezug- nahme auf Ursachen, Diagnostik und Therapiemoglichkeiten, mit dem Ziel einen Einblick in das Phanomen der AS-Storung zu erhalten, dargestellt. Um die Sozialisation von ASS-Betroffenen in der Offentlichkeit und im Fa- milienleben zu thematisieren, wird zum einen eine Fallstudie, die die Um- gebungsgestaltung und den Umgang mit einer ASS, ohne Druck und mit Ruckzugsmoglichkeiten, thematisiert, zum anderen als Gegensatz zu die- ser eine Fallstudie zu Greta Thunberg, die mit Druck und Erregungssteige- rungen, welche vom Overload bis zum Shutdown fuhren, sowie Erfahrun- gen und Regelungen in der Schule, herangefuhrt. Nicht nur innerhalb der Familie ergeben sich Probleme fur ASS-Betroffene, sondern auch im Bil- dungskontext treten haufig Barrieren auf. Probleme die auftreten konnen, sowie Bildungsmoglichkeiten werden in den Kapiteln Schulische Bildung der Betroffenen und Arbeitswelt von Autisten herangefuhrt. Diese Struktur soll dem Leser einen Eindruck in das Leben von Autisten und die sich aus der Krankheit ergebenden Chancen, sowie Herausforderungen in den Be- reichen Erziehung, Bildung und Sozialisation ermoglichen.
2. Autismus-Spektrum-Storung
In der Humanmedizin, der Allgemeinen Psychologie, sowie den Neurowis- senschaften gibt es fur die Kategorie der ICD-10 (Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandte Gesundheitsprobleme) ent- sprechende Leitlinien und Standards, sowohl fur die Diagnostik, als auch der Therapie. In dieser Arbeit wird die Ausgabe der ICD-10 der Weltge- sundheitsorganisation (WHO) zu Grunde gelegt, da diese fur Deutschland im Augenblick noch verbindlich ist. Die Uberarbeitung zur ICD-11 liegt wah- rend der Erstellung dieser Arbeit erst in einer Vorlage vor, und es ist beab- sichtigt, sie ab dem Jahr 2023 in Kraft treten zu lassen (vgl. Hillienhof 2019).
Dr. Dana Schneider vom Lehrstuhl fur allgemeine Psychologie und kogniti- ve Neurowissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universitat Jena fasst die entsprechenden Kriterien und Standards zusammen. Diese Version wird deshalb gewahlt, weil sie als konkrete Anleitung fur die psychologische, psychotherapeutische und psychiatrische Praxis konkretisiert wurde. Auf eine detaillierte Darstellung der DSM-5-Systematik (DSM = Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) kann in diesem Rahmen verzichtet werden, da dieses von der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft APA (American Psychiatric Association) herausgegebene Handbuch in Deutschland keine Verbindlichkeit besitzt.
In der von Schneider veroffentlichten PPT-Dokumentation wird die ASS als eine bereits in der fruhen Kindheit beginnende tiefgreifende Entwicklungs- storung definiert, die eine grundlegende, situationsubergreifende lebens- lange Beeintrachtigung darstellt. Das mannliche Geschlecht ist drei bis vier mal haufiger betroffen als das weibliche, bei einer Haufigkeit (Pravalenzra- te) von knapp einem Prozent der Bevolkerung. Sehr wahrscheinlich, so Schneider im Einklang mit der herrschenden Lehrmeinung, sind genetische Grundlagen, die die Entwicklung des Hirns und damit seiner Funktionen beeinflussen und beeintrachtigen (vgl. Schneider 2015).
Schneider weist daraufhin, dass eine Diagnose lediglich auf der Entwick- lungsgeschichte des Betroffenen sowie der intensiven Beobachtung seines Verhaltens beruht, da es keinerlei etablierte biologischen Marker gebe. An- zeichen seien Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion allgemein, wobei diese Schwierigkeiten die verbale als auch die nonverbale Kommunikation einschlieBen. Das weitere Verhalten zeichne sich durch begrenzte, repetitive und stereotype Muster aus, was auch begrenzte Interessen und Aktivita- ten allgemein betreffen (vgl. Schneider 2015, S. 3).
2.1 Kategoriales vs. dimensionales Modell
Der Unterschied zwischen der zurzeit noch gultigen Klassifikation der ICD10 ist die sogenannte kategoriale Diagnostik, die lediglich zwischen normal und abnorm unterscheidet, was jeweils zutreffen kann oder nicht. Im Ge- gensatz zur ICD-10 benutzt die amerikanische DSM eine sogenannte dimensionale Diagnostik, in der das festgestellte Symptom in seinem Aus- maB von schwacher Auspragung bis starker Auspragung beschrieben wird (vgl. Schneider 2015, S. 6).
In der noch gultigen Form der ICD-10 werden unter dem Code F84 insge- samt zehn einzelne Kriterien aufgefuhrt. F84.0 - F84.9 umfassen folgende Kriterien: fruhkindlicher Autismus, atypischer Autismus, Rett-Syndrom, an- dere desintegrative Storungen des Kindesalters, uberaktive Storung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypen, Asperger-Syndrom, sonstige tiefgreifende Entwicklungsstorungen und letztlich tiefgreifende Entwicklungsstorung nicht naher bezeichnet (vgl. Schneider 2015, S. 7; Weltgesundheitsorganisation 2016).
2.2 Komplexitat des Krankheitsbildes
Die Vielzahl der einzelnen Storungsmoglichkeiten und Storungsformen vermittelt bereits einen Eindruck uber die Komplexitat und vielfaltige Er- scheinungsformen dessen, was bisher unter dem Sammelbegriff Autismus subsumiert wurde.
Wichtig zu erwahnen, dass in der gegenwartigen psychologischen und neu- rowissenschaftlichen Praxis die dimensionale Diagnostik bestimmend ist, da die Uberarbeitung der ICD-10 zur ICD-11 stark an die DSM-5 angelehnt und mit ihr harmonisiert werden soll. Diese neue Praxis der Diagnostik hat unmittelbare Auswirkungen auf mogliche Therapieinterventionen, wobei die noch notwendige Schweregradeinteilung das AusmaB der Unterstutzung und Begleitung des Patienten definiert und damit Art und Umfang der The- rapie und der sozialmedizinischen Begleitung und Versorgung bestimmt (vgl. Schneider 2015, S. 7 f.).
Im Grad 1 bei hochfunktionalem Autismus und Asperger-Syndrom wird ein niedriger Level angesetzt. Im Grad 2 wird eine substanzielle Unterstutzung als notwendig angesehen, wohingegen im Grad 3 der Umfang als sehr substanziell beschrieben wird. Hier sind die Betroffenen des Kanner-Syn- droms, des fruhkindlichen und des niedrigfunktionalen Autismus angefuhrt, die ihren Alltag alleine zu bewaltigen nicht in der Lage sind (vgl. Schneider 2015, S. 9).
Schneider macht ausdrucklich auf die Schwierigkeiten einer klaren und eindeutigen Diagnostik aufmerksam, da nicht die einzelnen Symptome spezifisch aussagekraftig seien, sondern nur die Symptomkonstellationen, da Merkmale, die dem Autismus zugeschrieben werden, auch in vielen an- deren Storungen auftauchen (vgl. Schneider 2015, S. 12).
Im Rahmen der Harmonisierung von ICD-11 und DSM-5 sollen, so der Antrag der Deutschen Gesellschaft fur Kinder- und Jugendpsychiatrie und - psychotherapie aus 2015 an die interdisziplinare Projektgruppe ICD-11, auch die Systematik der Domanen ubernommen werden.
So ware die Domane A definiert als die soziale Kommunikation mit qualita- tiver Einschrankung der sozialen Interaktion mit den Defizitfeldern der sozi- al-emotionalen Reziprozitat mit sechs Leitsymptomen, der nonverbalen Kommunikation mit funf Leitsymptomen und dem Feld der Entwicklung und dem Erhalten von Freundschaften mit vier defizitaren Verhaltensweisen (vgl. Schneider 2015, S. 16 f.).
Weiterhin gibt es die Domane B der restriktiven und repetitive Verhaltens- weisen mit vier Feldern und insgesamt 16 unterschiedlichen Symptomen, auf die spater noch einzugehen sein wird (vgl. Schneider 2015, S. 18 f.).
Die drei letzten Domanen definieren die Bedingungen, die erfullt sein mus- sen, damit die Symptome fur eine belastbare Diagnose relevant sein kon- nen. Domane C bestimmt, dass die Symptome unter anderem bereits in der fruhen Kindheit vorhanden waren, Domane D definiert, dass die Sym- ptome klinisch bedeutsam und eine starke Beeintrachtigung im Alltag sein mussen, wahrend Domane E die Ausschlussdiagnose notwendig macht, dass also keine sonstigen intellektuellen oder allgemeinen Entwicklungs- storungen das Krankheitsbild erklaren (vgl. Schneider 2015, S. 20).
2.3 Erklarungsmodelle
2.3.1 Funktionen der Spiegelneuronen
Menschen, die an Autismus leiden, haben sehr oft Schwierigkeiten, Mimik, Gestik und Prosodie ihres Gegenubers wahrnehmen und interpretieren zu konnen (vgl. Dilling 2011 S. 351; autismus Deutschland e. V. o.J.).
Es gibt die Auffassung, dass diese Defizite auf die eingeschrankte Funktion von sogenannten Spiegelneuronen zuruckzufuhren sein kann.
„In den 90er Jahren entdeckte der italienische Gehirnforscher Giaccomo Rizzolatti, dass im Gehirn von Affen bestimmte Neu- ronen aktiviert werden, wenn diese eine Mimik, Gestik oder Handlung vollfuhrten. Er fand heraus, dass die selben Neuro- nen aktiv waren, wenn die Affen die entsprechenden Handlun- gen bei anderen Affen nur sahen, ohne selbst aktiv zu werden. Er nannte diese Neuronen daher ,Spiegelneuronen'. Die Spie- gelzellen befinden sich auch im menschlichen Gehirn und tra- gen auch hier dazu bei, nachvollziehen zu konnen, was andere Menschen fuhlen.“ (Vollinger 2018)
Eine uneingeschrankte Funktion der Spiegelneuronen ist aber die Grundla- ge der menschlichen Empathie, das heiBt, der Fahigkeit des Menschen nicht nur Gestik und Mimik des Gegenuber wahrzunehmen, sondern auch verstehen, interpretieren und somit nachempfinden zu konnen (vgl. Volliger 2018). Die zuvor genannten Defizite konnten jedoch in unterschiedlichem Umfang und je nach Grad der Beeintrachtigung durch die Neuroplastizitat des menschlichen Gehirns und durch gezielte therapeutische MaBnahmen zum Teil kompensiert werden. Pragnantestes Beispiel ist die Tatsache, dass bei manchen Betroffenen das Gesichtserkennungsareal des Gehirns stumm bleibt, auch wenn sie einen Menschen ansehen. Fur sie bleibt das Gesicht ein beliebiges Objekt und lediglich das Objekterkennungsareal des Gehirns des Betroffenen wird aktiviert (vgl. ebd.). Jedoch kann das theore- tische Konstrukt der Spiegelneuronen das Phanomen Autismus nicht um- fassend erklaren. Unbeantwortet bleibt die Frage nach Reizuberflutung und die damit verbundene Unfahigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unter- scheiden (vgl. Khalil et al. 2018).
Als Fazit bleibt, dass das menschliche Gehirn plastisch veranderbar ist und durch entsprechendes Training diese Defizite sowohl in den Spiegelneuro- nen als auch auf der Verhaltensebene deutlich gelindert werden konnen.
„ [...] daher gilt es fur die weitere Forschung, die diversen Un- terformen von Autismus intensiv zu analysieren. Je besser wir die Pathophysiologie dieser Unterformen verstehen, umso mehr konnen wir kunftig mafcgeschneiderte Therapien entwickeln.“ (Khalil et al. 2018)
2.3.2 Funktionen des Belohnungssystems
Ein anderer atiologischer Ansatzpunkt zum Autismus und seiner Entwicklung, was die neuronale Ebene betrifft, ist die mogliche Fehlfunktion von Synapsen der Nervenzellen im Belohnungsystem. Bestimmte Verhaltens- weisen werden im Gehirn der Saugetiere durch das Belohnungssystem verstarkt, sodass Motivation, welche unter anderem beim Lernen erforder- lich ist, entsteht. Sobald das Belohnungssytem im Gehirn eine Storung aufweist, konnen diverse Probleme, wie beispielsweise Probleme der so- zialen Anpassung, auftreten (vgl. Vollinger 2018).
2.3.3 Die genetische Grundlage
Bei Versuchen mit Mausen konnte nachgewiesen werden, dass Verande- rungen auf genetischer Ebene, bei Mausen angezuchtet, auch bei Men- schen mit Autismus vorhanden sind. Es handelt sich hierbei um das Gen Neuroligin 3, dass entweder ausgeschaltet oder in den dopaminargen Neu- ronen stark reduziert war.
„Man kennt mittlerweile mehr als hundert Gene, die mit autisti- schen Symptomen in Zusammenhang stehen. Viele von ihnen spielen fur die Funktion der Synapsen eine Rolle. Dies erklart, warum soziale Storungen bei autistischen Menschen so haufig sind.“ (Vollinger 2018)
So bleibt letztlich die Forderung, dass bestimmte Verhaltensauffalligkeiten hinsichtlich ihrer Funktionsstorungen auf neuronaler Ebene zu klassifizieren und ihr genetischer Hintergrund verstanden werden mussen, um individua- lisierte Therapien entwickeln zu konnen, so wie es vergleichsweise im Be- reich der individualisierten Medikation in der Pharmakologie geschieht.
2.4 Erregungszustande
Die extremen Verhaltens- und Reaktionsweisen lassen sich mit dem Modell der Erregungszustande im menschlichen Korper beschreiben.
Man kann die Gefuhlsausbruche bei Menschen mit ASS ganz vordergrun- dig als korperliche Symptome deuten und verstehen, wodurch sich jedoch die Frage nach den Ursachen stellt, insbesondere dann, wenn medizinisch keine organischen Befunde vorliegen. Hierzu stellt Kai Born, Facharzt fur Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, fest, dass eine Aufregung jeglicher Art grundsatzlich mit korperlichen Symptomen einhergeht, wie z.B. Herzklopfen, Herzrasen, Muskelanspannung und schnelles Atmen. Born geht von der Tatsache einer normalen, sogenannten Grunderregung aus, da die Erregung, solange der Mensch am leben ist, niemals null ist (vgl. Born 2019). Eine akute und aktuelle Erregung schwanke jedoch standig, um sich den jeweiligen Anforderungen anzupassen, wobei die korperlichen Symptome abhangig seien von der Hohe der Erregung. Mit langsam stei- gendem Stress steigert sich die Grunderregung, um die belastende Situation bewaltigen zu konnen, wobei sich die Erregung am Ende wieder auf ihr Grundniveau herunter regelt. Langfristig kann der Korper jedoch ein erhoh- tes oder gar uberhohtes Erregungsniveau nicht durchhalten und es kommt zu einer Uberforderung. Bei neurotypischen Menschen steigt die Grunder- regung allmahlich an, um im weiteren Tagesverlauf das Niveau der hohen Erregung zu erreichen. Auch hier kann bereits eine Uberforderung eintre- ten, wobei der betroffene neurotypische Mensch sich zuruckziehen und Ab- stand gewinnen kann (siehe Grafik).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung: Born 2019
2.4.1 Die Ubererregung: der Overload
Bei den ASS-Betroffenen betragt die Zeitspanne zwischen normaler Grun- derregung und Sprung auf hohe Erregung nur Bruchteile von Sekunden und weder das Bewusstsein, noch der Korper der Betroffenen konnen sich auf den plotzlichen Erregungsimpuls einstellen und angemessen darauf reagieren. Es entsteht ein plotzlicher Kurzschluss, der um im Bild zu blei- ben, sprichwortlich „ alle Sicherungen durchbrennen lasst und alle Filter au- Ber Kraft setzt“ (vgl. Born 2019). Ungebremst versuchen sich Geist und Korper von ein- und durchschlagendem Stress durch aggressionsgeladene und aggressionsgetragene Reaktionen zu entlasten. Helfen bei neurotypi- schen Menschen, deren Grunderregung sich leicht und schnell steigert, z.B. durch psychoedukative MaBnahmen wie Aufnahme von Entspan- nungsubungen oder Ausdauersport kontrollieren, so bleiben bei ASS-Men- schen solche Erfolge aus. Kompensatorische MaBnahmen konnen hier nur darin bestehen, dass eine Umgebung gestaltet wird, die Reize und indivi- duelle Storungen und mogliche Trigger ausschaltet oder deren Einfluss auf die ASS-Betroffenen verringert werden. Bei vorhersehbaren Routinesitua- tionen und entsprechenden Belastungen konnen je nach individuellen Vor- aussetzungen jedoch MaBnahmen im Rahmen der kognitiven Verhaltens- therapie hilfreich sein (vgl. ebd.)
2.4.2 Hilfe durch Selbsthilfegruppen
Die den Betroffenen gemaBe Gestaltung der Umgebung und der Interakti- ons- und Kommunikationsroutinen obliegt den nachsten Bezugspersonen der Betroffenen, also dem innersten Kreis.
Die Bezugspersonen konnen sich sowohl uber das Fachpersonal als auch uber Selbsthilfegruppen Rat zur Gestaltung der Lebenssituation im hausli- chen Alltag holen. Dies kann jeweils aktuell in der Gruppe vor Ort oder auch im Internet geschehen (vgl. Dohle 2014, S. 35).
Ziele dieser Selbsthilfegruppen und -foren sind die Forderung des Selbst- wertgefuhls und des Selbstbewusstseins von Autisten, ihnen einen Weg aus der personlichen Isolierung zu ebnen und die Moglichkeit zu eroffnen, sich uber ihre Probleme austauschen zu konnen, letztlich ihnen praktische Lebenshilfe zur Gestaltung ihres Alltags zu leisten (vgl. Dohle 2014, S. 323). Probleme hierbei ergeben sich aus der Tatsache, dass in den Grup- pen und Foren Mitglieder des gesamten Autismusspektrums vertreten sind, sodass je nach Grad der Auspragung es zunachst zu einer befremdlichen Erfahrung, verbunden mit Schwellenangst, kommen kann. Somit ist fur eine Interaktion innerhalb einer Gruppe oder der Internetcommunity eine qualifi- zierte Moderation notwendig (vgl. Dohle 2014, S. 333).
2.4.3 Binnenstruktur der Selbsthilfegruppe
Diese qualifizierte Moderation hat darauf zu achten, dass es sowohl im vir- tuellen Raum, als auch in der realen, direkten personlichen Interaktion und Kommunikation zu keinen Overloads oder gar Melt-Downs (totalen Zu- sammenbruchen) kommt, was unter Umstanden die Gruppe sprengen konnte (vgl. Dohle 2014, S. 333).
Drei Stufen der Entwicklung solcher Gruppen konnen beobachtet werden. Zunachst kann eine Gruppe von Fachkraften initiiert werden, die dann, in einer zweiten Stufe, anderen qualifizierten Laien die Organisation und Moderation ubertragen. Letztlich kann, bei entsprechend fachlichen Voraus- setzungen der Gruppenmitglieder, die Organisation und Moderation selber ubernommen werden. Die Themenwahl innerhalb der Gruppe kann sich dann uber den Austausch allgemeiner Informationen bis hin zum Austausch uber Therapie- und Begleiterfahrungen erstrecken. Was auch und gerade bei Forder- und UnterstutzungsmaBnahmen seitens des Gesetzgebers von Bildungseinrichtungen oder bei beruflichen MaBnahmen der Fall sein sollte. Auf eine qualifizierte und verantwortungsbewusste Organisation und Moderation ist alleine deswegen schon zu achten, wenn bei den betroffenen Mit- gliedern der Gruppe der Schweregrad und die jeweiligen Ubergange nicht bekannt sind. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, auch wenn ihre Bezugs- und Begleitpersonen anwesend sind, kann unerwartet eine normale Tagesschwankung ihres Erregungszustandes in den Bereich der hohen Erregung bis hin zum Overload und Meltdown geraten. Solche Ereignisse mussen dann durch erfahrene und qualifizierte Organisatoren und Modera- toren kontrolliert werden. Dies konnen auch qualifizierte Laien sein, da sie in der Regel in einer Selbsthilfegruppe das Leben von und mit Autisten und Asperger-Betroffenen kennen (vgl. Born 2019).
2.4.4 Die Bedeutung des sozialen Raumes fur den Erregungsverlauf
Grafik 1 zeigt die normalen Schwankungen der Erregungskurve im Zeitab- lauf bei neurotypischen Menschen. Dieses Modell geht davon aus, dass jeder Mensch einen bestimmten Level einer Grunderregung besetzt, was evolutionar gesehen, dazu fuhrt, dass er standig Reize aus seiner Umge- bung aufnimmt, ihn vor Gefahren warnt und ihm erlaubt, sich in seinem so- zialen Raum verorten zu konnen. Je umfangreicher dieser Raum ist, desto hoher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene auf Ungewohntes, Veranderungen oder komplett Neues trifft und dies aufgrund seiner Veran- lagung als Storung und Bedrohung empfindet oder so empfinden muss. Irritationen konnen sich herleiten aus einem unterschiedlichen Habitus des Gegenubers oder auch der materiellen Gestaltung des Sozialen Raums der neuen Situation (vgl. Caritas Deutschland 2017).
In einer grafischen Darstellung werden die moglichen sozialen Raume eines Betroffenen demonstriert. Je mehr er sich vom innersten Punkt ent- fernt, sein innerstes Selbst, und uber seinen familiaren Intimbereich bis hin zu dem Ort der moglichen Konfrontation mit neuen und fremden Personen und Gegenstanden, desto groBer wird der empfundene Kontrollverlust, desto starker wird die Beanspruchung und Belastung seines Wahrneh- mungsapparates mit entsprechendem Druck und der sich anschlieBenden Gefahr des sensorischen Overloads. Das Erregungsniveau kann den ma- ximalen Erregungslevel uberschreiten, was nicht als allmahlicher Prozess erlebt wird, sondern als Durchbrechen eines Dammes oder dem Durch- brennen einer Sicherung (siehe Grafik S. 8).
2.4.5 Traumatisierung durch Overload, Meltdown und Shutdown
Es ist anzunehmen, dass solche wiederholten und notwendigerweise sich wiederholenden dysfunktionalen Erfahrungen und Erlebnisse zu Traumata werden und somit das fur die Betroffenen zunachst protektive Verhalten verstarkt wird. Dieses Verhalten ist zunahst funktional fur den Betroffenen und als notwendige Copingstrategie auch angemessen. Auf mittlere oder langere Sicht kann dies jedoch zu einer Verstarkung im Sinne einer repeti- tiven und rezidivierenden Re-Traumatisierung im hochsten MaBe dysfunktional und toxisch werden. Geschieht dies fur den Betroffenen unkontrol- liert, unkontrollierbar und ohne Beistand durch entsprechende Begleit- und Bezugspersonen aus dem Bereich des Fachpersonals der qualifizierten Laien oder der Bezugspersonen aus dem familiaren Intimbereich, kann es zum sogenannten Meltdown, einem totalen Zusammenbruch des Systems der sensorischen Informationsverarbeitung, kommen. Der Overload kann sich nach auBen in Form eines Nervenzusammenbruchs als Reaktion auf die Reizuberflutung und des im Kopf entstandenen Chaos darstellen. Der Betroffene versucht dem zu entgehen, indem er sich voll und ganz auf eine Sache konzentriert. Dies kann ein Spiel mit den Fingern sein, oder der Ge- brauch von Kopfhorern und dem Lauschen einer bestimmten Musik als Gegenstrategie. Gibt es fur den Betroffenen eine solche Ruckzugsmoglich- keit nicht, kann es zum Meltdown kommen, was sich in Form eines unkon- trollierten und unkontrollierbaren Wutausbruchs auBern kann. Jedoch kun- digt es sich an durch Kopfschmerzen, erhohte Sensibilitat, Fluchtgedanken oder abwehrende und abweisende Korperreaktionen. Begleit- und Betreu- ungspersonen konnen es erkennen und entsprechende Vorsichts- und Ent- lastungsmaBnahmen einleiten. Geschieht dies nicht, kann es zu einem Shutdown kommen, wobei sich der Betroffene vollstandig in sich zuruck zieht und nicht mehr ansprechbar ist (vgl. Born 2019).
2.5 Schwerpunkt: Asperger-Syndrom
Allgemein gilt das Asperger-Syndrom (AS) als eine milde Form der Storung im Autismus-Spektrum und wird in der Beschreibung seines klinischen Bil- des, also all dessen, was der Arzt beobachten und diagnostizieren kann, eher der dimensionalen Systematik des DSM-5 als der kategorialen Sys- tematik der ICD-10 zugeordnet. Darum gilt die Asperger-Storung, auch As- perger-Autismus genannt, nach wie vor als Entwicklungsstorung im Rah- men des Autimus-Spektrums. Der Symptomkomplex von Asperger und Hochfunktionalem Autismus (HFA) unterscheidet sich von anderen Krank- heitsbildern aus dem Autismus-Spektrum dadurch, das keine Lernbehinde- rung vorliegt. Dies ist besonders wichtig zu beachten, da gerade in diesem Punkt die Pforte zu gezielten Therapie- und FordermaBnahmen liegen kann, auf die spater noch eingegangen werden wird. Eine Lernbehinderung liegt bei einem IQ geringer als 70 vor (vgl. Feichter 2017).
2.5.1 Einfuhrende Ubersicht der moglichen Symptome
Die Asperger-Symptome sollen hier in einem kurzen Uberblick der Uber- sicht wegen vorgestellt werden. Bereits ab dem dritten Lebensjahr lasst sich eine verzogerte motorische Entwicklung des Kindes beobachten, was sich sowohl als nicht mehr altersgerechte Ungeschicklichkeit und oder auch als stereotypes Verhalten ausdruckt. Auf der mentalen Ebene zeigen sich eine geringe Fahigkeit zur Interaktion und Kommunikation und oft auch Formen von Selbstgesprachen. Als Ursachen und Risikofaktoren gelten genetische Anomalien, Fruhgeburt sowie Infektionen und Krankheiten mit entsprechender Medikation bei der Mutter wahrend der Schwangerschaft. Eine eingehende Diagnose erfolgt durch die ausfuhrliche Anamnese der Familiengeschichte, sowie durch psychiatrische und neurologische Unter- suchungen. Erhebungen durch spezielle Autismustests erlauben in der Regel nur eine grobe Einschatzung und ist insbesondere bei Erwachsenen sehr schwierig, wie spater in einem Fallbeispiel noch zu schildern sein wird. Letztlich bleibt festzuhalten, dass Asperger im Speziellen und die damit verbundenen allgemeinen Storungen im gesamten Ausitmusspektrum nicht heilbar sind. Der Leidensdruck der Betroffenen kann jedoch durch Kommu- nikationstraining, Verhaltenstherapie sowie Ergo- und Physiotherapie gelin- dert werden. Grundsatzlich gilt, dass je fruher die Diagnose erfolgt und je fruher therapeutische Interventionen Anwendung finden, die Erfolge umso wahrscheinlicher und groBer sein konnen (vgl. Feichter 2017).
Vergleichbar der Minus- und Plus-Symptome bei psychotischen Storungen kann man auch bei den Asperger-Symptomen zwischen einer Plus-Sym- ptomatik und einer Minus-Symptomatik unterscheiden. Von einer Plus- Symptomatik spricht man, wenn es die Grenze des Neurotypischen, also des Normalen in dem Sinne uberschreitet, dass es ein Mehr bis einem Zu- viel erreicht, wahrend es sich um eine Negativsymptomatik handelt, wenn die neurotische Untergrenze in den Bereich des Mangels und des Defizits uberschritten wird. Die Negativsymptomatik wurde hier erschwerte soziale Kontakte, wenig bis kein Interesse an sozialen Kontakten, Mangel an Em- pathiefahigkeit und stereotype Verhaltensweisen umfassen. Die Plus-Sym- ptomatik wurde unter anderem die Kategorien gute bis durchschnittliche Intelligenz und extreme Auspragungen von Interessen und Wissen beinhal- ten. Was zunachst als Plus-Symptomatik positiv erscheinen mag, kann bei einer zu starken Auspragung auch zu einer Negativsymptomatik umschla- gen, wenn es z.B. durch eine Gerauschuberempfindlichkeit schon bei ge- ringer Lautstarke zum Leidensdruck kommt. Letztlich muss jedoch betont werden, dass die Einzelsymptome immer nur in ihrer Gesamtkonstellation und mit den Symptomen der moglichen Komorbiditaten gesehen und in ih- rer Wirkung bewertet werden mussen (vgl. ebd.).
2.5.2 Erste Interventionsmoglichkeiten: Psychoedukation
Die Arztin und Autorin Christine PreiBmann verfasst Bucher und Aufsatze uber ihre praktischen Erfahrungen aus ihrem Alltag mit Asperger. So hat sie den Abiturabschlussball ihres Bruders nicht als sozialen Event verstanden und ist dort in Jogginghose und Birkenstock Sandalen erschienen. Erst nachdem man ihr den Dresscode erklarte, ging sie nach Hause und zog sich dem Anlass entsprechend um. Sie lernte daraus, dass sie zukunftig bei einer Einladung nach erwunschter Kleiderordnung fragt und somit diesbe- zugliche Konflikte vermeidet. Dies ist ein Beispiel einer einfachen psycho- edukativen Intervention im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie. Tatsache ist, dass Asperger-Menschen oder Autisten, die sich eher in der Positivsymptomatik des Spektrums befinden, alle AuBerungen unter Um- standen wortwortlich verstehen. Die Autorin zeigt dies am Beispiel einer Fortbildung, wo ihr gesagt wurde, dass man um 18 Uhr in der Stadt die Burgersteige hochklappen wurde. Sie habe dann im Hotel nachgefragt, wie lange sie noch durch StraBen laufen konnen. Die Dame am Empfang habe sie gefragt, ob sie sie argern wolle.
Asperger-Betroffene und Autisten verstehen bildhafte Sprache und Meta- phern ebenso wenig wie Ironie oder Wortspiele. Sie mussen solche Dinge lernen, wie andere Menschen Vokabeln einer Fremdsprache lernen mus- sen (vgl. PreiBmann 2018).
3. Mogliche Ursachen der ASS: Stand der Forschung
„Autismus-Spektrums-Storungen (ASS) haben mit den Neuro- Psychiatrischen Erkrankungen mit die grottte Heritabilitat, was sich an den hohen Konkordanzzahlen von ca. 70 Prozent bei monozygoten Zwillingen in fruheren Zwillingsstudien gezeigt hat. Dementsprechend liegt das empirische Wiederholungsrisi- ko fur Geschwister von Kindern mit ASS zwischen funf und zwanzig Prozent.“ (Rost et al. 2019)
Dies heiBt, ASS sind in hohem MaBe genetisch bedingt und vererbbar, in ihrer Entstehung und Auspragung aber sehr unterschiedlich und vielfaltig. Bei ca. 20-25 Prozent der ASS insgesamt lassen sich genetische Ursachen finden, wahrend bei weiteren drei bis funf Prozent eine rein monogeneti- sche Ursache vorliegt. Das wiederum heiBt, dass bei Einzelgenen eine pa- thogene Variante vorliegt, die bestimmte Syndrome hervorruft, von denen ein Teil Symptom einer ASS ist. So konnen also die ASS mit vielen Syn- dromen vorkommen und von diesen verdeckt und/oder verschleiert werden. Dies erklart auch die Schwierigkeiten bei der Erstellung einer Diagnose (vgl. Rost et al. 2019).
„Man nimmt heutzutage an, dass eine Vielzahl von Genen, wahrscheinlich uber tausend, an der Entstehung von ASS betei- ligt sein konnen, wobei noch nicht erklart ist, in welchem Aus- ma& einzelne Varianten die Auspragung im Einzelfall beeinflus- sen. Trotzdem kann die erweiterte Diagnostik auch mittels NGS (Gen-Panel-Diagnostik) im Einzelfall zur Diagnose und damit zu genaueren Aussagen zur Prognose und zum Wiederholungsri- siko fuhren.“ (Rost et al. 2019)
Die Forschung auf diesem Gebiet ist umso wichtiger, je mehr man sich dem Thema der moglichen Pravention oder zukunftiger moglichen Gentherapien zuwendet. Rost et al. nennen alleine 60 Gene, die unmittelbar beteiligt sind am Entstehen von ASS.
Sie nennen auBer Autismus 14 weitere Syndrome, deren Ursachen im Komplex dieser 60 Gene liegen konnen, wobei einige dieser Syndrome mit dem Zusatz u.A. Erkrankungen versehen sind (vgl. ebd.). Auf diesen Punkt wird auf den Abschnitt Fazit und Ausblick verwiesen werden.
3.1 Neues Forschungsfeld: Die Proteomik
Eine weitere Ursache von ASS konnte in der Darmflora der Betroffenen zu finden sein. Ein relativ junges Feld der medizinischen Forschung, die Me- taproteomik, zeigt vielversprechende Ergebnisse.
„Erst kurzlich haben Forscher gezeigt, dass keimfreie Mause autismusahnliche Symptome entwickeln, wenn ihnen der Stuhl von Autisten transplantiert wird. Andersherum scheint die Darm- flora aus dem Stuhl von Gesunden in einer ersten kleinen Stu- die die Verhaltensstorungen und haufig vorkommenden Magen- Darm-Beschwerden von autistischen Kindern zu lindern.“ (Rost et al. 2019)
Was die traditionell-ganzheitliche Medizin schon immer wusste, wird jetzt schulmedizinisch belegt. Begriffe wie, das Bauchgefuhl, aus dem Bauch heraus entscheiden oder das schlagt mir auf Magen und Darm finden hier ihre medizinisch-wissenschaftlichen Entsprechungen. Auch entsprechende Interventionen aus der ganzheitlichen Medizin wie Darmsanierung werden aus ihrer vermeintlich esoterischen Ecke herausgeholt.
„Eine veranderte Darmflora bei Menschen mit Neigung zu Auti- mus-Spektrums-Storung bewirkt moglicherweise, dass deren Darm fur bakterielle Substanzen durchlassiger wird. Dadurch konnte es einer Hypothese zu folge im Darm, aber auch im Ge- hirn zu einer unterschwelligen chronischen Entzundung kom- men. Diese wiederum konnte die fruhkindliche Entwicklung und schwere der Autismus-Symptome mit beeinflussen, etwa die Unfahigkeit, soziale Bindungen einzugehen.“ (Rost et al. 2019)
AuBer der Hypothese der chronischen unterschwelligen Entzundung gibt es in ahnlichen Modellen auch die Glutamat-Uberschuss- und die Trimethyla- min-Hypothese (vgl. Shimmura et al. 2011).
Auf der Genom-Ebene ist bereits vieles bekannt, wie die Aufzahlung der 60 beteiligten Gene zeigt. Auch auf der nachst hoheren Ebene, der Metage- nomik, weiB man mittlerweile, dass Gene mit- und untereinander kommuni- zieren. Die Proteomik, die Wissenschaft von den Proteinen, hat nun die Stufe der Metaproteomik erreicht, also die Forschung uber die Interaktion der Proteine und was deren Wirkung auf die ASS betrifft. Sie steht aber erst am Anfang. Bei Mausen als Forschungsobjekte haben z.B. Macek und Kol- legen mittels Massenspektrometrie inzwischen 30 000 unterschiedliche Proteine im Stuhl von Mausen isolieren und identifizieren konnen (vgl. Breitmaier 2019).
Bestatigt werden diese Forschungsergebnisse aus der Metaproteomik durch Forschungsergebnisse des Max-Planck-Instituts fur gastrointestinale Kybernetik in Hannover.
„Bekannt war, dass Bakterien Gene untereinander austau- schen. Auf den mikroskopischen Aufnahmen, die die Forscher in Hannover mit der jungsten Generation von Endoskopen ge- macht haben, waren auffallig viele schlauchartige Verbindungen unter den Darmbakterien zu erkennen. [.] Diese Nanotuboli [...] wiesen eine auffallende Ahnlichkeit mit den Synapsen des Nervensystems auf. [.] die Bakterien waren in der Lage, Akti- onspotenziale an benachbarte Bakterien weiter zu leiten.“ (Estruch et al. 2015)
In diesem Zusammenhang weist ein alternativer Forscher ebenfalls auf die Bedeutung der Darmflora als moglichen Ausgangspunkt von ASS hin. Michael Peuser stellt einen Zusammenhang her zwischen der steigenden Zahl der Kaiserschnittsgeburten und dem Anstieg der ASS-Diagnosen. In manchen Landern betrage der Anteil der CDMR (Cesarian Delivery on Maternal Request), also Geburt durch Kaiserschnitt auf Wunsch der Mutter zwischen 25 und 47 Prozent (vgl. Peuser 2018).
Michael Peusers Hypotheses zufolge verhindert eine Geburt per Kaiser- schnitt die Ubertragung vom Stuhl der Mutter auf das Baby und damit den naturlichen Aufbau einer Darmflora durch das Baby, was bei einer Vaginal- geburt auf naturliche Weise quasi von selbst geschehe. Die Losung des Problems sieht Preuser darin, dass, falls es zu einem Kaiserschnitt kommt, es ausreiche, eine Mini-Stuhlubertragung mittels eines Wattestabchens von Mutter zu Kind vorzunehmen.
Zum Abschluss sei auch das Mittel der sogenannten bildgebenden Verfah- ren genannt, wenn es um die Moglichkeiten der Fruhdiagnose und der Su- che nach moglichen Ursachen der ASS geht. Zu bedenken ist hier jedoch, dass organische Storungen im Gehirn eines Neugeborenen nur sehr schwer zu identifizieren sind (vgl. ebd.).
3.2 MRT und andere bildgebende Verfahren
Da sich die Symptome einer ASS erst einige Zeit nach der Geburt eines Kindes zu manifestieren beginnen und diese haufig auf individuelle Fort- schritte bei der Entwicklung des Babys oder Kleinkindes als solche Mog- lichkeiten erkannt und benannt werden konnen, erschwert dies erneut eine sachgerechte Diagnose. Es vergehen u.U. zwei bis drei Jahre (vgl. Shen 2017).
Eines dieser bildgebenden Verfahren, die MRT (Magnetresonanztomogra- fie), ermoglicht einen Blick unter die Schadeldecke. Dabei wurden bei Scans von zwei sechs Monate alten Sauglingen Unterschiede in den Antei- len der Gehirnflussigkeiten festgestellt. Bei dem Saugling mit auffallend ho- hem Anteil an Gehirnflussigkeit wurde im Alter von zwei Jahren Autismus diagnostiziert (vgl. ebd.).
Dieser Initialuntersuchung folgte eine Reihenuntersuchung, die das Ergeb- nis der ersten Untersuchung als belastbare Hypothese bestatigt. Im Um- kehrschluss zeigten die Scans von Zweijahrigen, bei denen ASS diagnosti- ziert wurde, ein um ca. 15 Prozent hoheres Volumen des Gehirnwassers als bei einer Vergleichsgruppe, deren Mitglieder nicht von ASS betroffen waren (vgl. ebd.). „Wir wissen, dass die Zerebrospinalflussigkeit auf Stan- dart-MRT-Aufnahmen leicht zu erkennen ist und lange vor dem Auftreten der ersten Symptome als moglicher Biomarker fur Autismus dienen kann“ (vgl. Shen 2017). Sicher ist diese Moglichkeit der Fruhdiagnose ein erheblicher Fortschritt; unklar bleibt aber im Augenblick noch, ob diese Er- kenntnis die Pforte zu weiteren diagnostischen und therapeutischen Inter- ventionen offnet.
4. Therapie
Bisher galt im wissenschaftlichen Mainstream die Ansicht, dass ASS nicht heilbar sei. Interventionen, sei es aus dem psychotherapeutischen oder auch pharmakologischen Bereich, dienten allenfalls zur Reduzierung des autistischen Verhaltens. Einen Schritt weiter jedoch geht das chinesische Forschungsunternehmen Beike Biotechnology (vgl. Stammzellenwelt o. J.). Wie die Informationen auf der Homepage bereits aussagen, bietet dieses Unternehmen ein Therapieverfahren auf dem Gebiet der Stammzellen- transplantation an. Ausgangspunkte fur die die Bike-Forscher sind die ent- deckten Zusammenhange zwischen ASS, eingeschrankten neurologischen Funktionen und einem defekten Immunsystem, sowie einer unausgegliche- nen Darmflora. Die Beike-Wissenschaftler schlagen ein Therapiekonzept vor, das aus Modulen besteht. Es ist 1. die Stammzelleninjektion, 2. die transkranjelle Magnetstimulation und 3. eine Stuhltransplantation. Zum letz- teren sei hier noch einmal auf den Abschnitt mogliche Ursachen von ASS verwiesen.
Ziel der Stammzellentransplantation ist, die gestorten neurologischen Funk- tionen zu verbessern oder sogar wiederherzustellen und gleichzeitig das Immunsystem zu stabilisieren (vgl. ebd.).
Das Unternehmen fuhrt, laut seinem Internetauftritt, folgende moglichen Verbesserungen auf: verbessertes soziales Interaktions- und Kommunikati- onsverhalten, verbesserte Sprach- und Lernfahigkeit, weniger repetitives Verhalten, verbesserte geistige Entwicklung und verbesserte Darmfunktion mit stabilisierten Muskeltonus (vgl. Kang et al. 2017).
Was die Stuhltransplantation betrifft, so stutzen sich die Bike-Wissenschaft- ler auf die Evidenz, dass direkte Verbindungen zwischen Darm und Gehirn ausgemacht werden konnen. Insbesondere wenn das Mikrobiom im men- schlichen Darm Defizite aufweist, das heiBt, dass die Bakterienvielfalt nicht vollstandig ist, konnen sich daraus neurologische dysfunktionale Symptome ergeben, die im Zusammenhang mit Autismus entstehen. „Stuhltransplanta- tion (FMT) ist eine unterstutzende Behandlung, die helfen kann, unausge- wogene oder fehlende Vielfalt im Darm zu korrigieren“ (vgl. Stammzellen- welt o.J.).
Als drittes und letztes Therapiecluster werden nach der wichtigsten der drit- ten Gruppe, die transkranielle magnetische Stimulation (TMS), auch noch die sonst ublichen therapeutischen MaBnahmen, wie Ergo- und Physiothe- rapie angefuhrt, deren Praktiker auch die TMS durchfuhren. Die TMS-The- rapie geht von folgenden theoretischen Vorstellungen aus:
„Das Craniosakralsystem wird als eigenstandiges physiologi- sches System angesehen, das zusammengesetzt ist aus den Menengialmembranen, den Knochenstrukturen, an denen die Menengialmembranen befestigt sind, den Bindegewebestruktu- ren, welche eng mit den Menengialmembranen verbunden sind, der Zerebrospinalflussigkeit und den zur Herstellung, Resorption und Speicherung des Liquors dienenden Strukturen.“ (Karch et al. 1998)
Ansatzpunkte dieser Therapie am Korper des Patienten sind Okziput und Sakrum, also die Regionen um den ersten Halswirbel und die Lendenwir- bel. Die manuelle Technik ist die Palpation, ein Wechsel von leichtem Druck und ganz leichter Beruhrung. Hierdurch soll z.B. durch eine Kompression eines Hirnventrikels die Flussigkeitsmenge und der Austausch des Liquors erhoht werden (vgl. Upledger & Vredevoogd 2016).
In ihrer Kritik heben Karch et al. jedoch die Fragwurdigkeit dieser Therapie- form hervor, die von verschiedenen Untersuchungen in der evidenzbasier- ten Schulmedizin auf keinen Fall zu bestatigen seien. Sie sehen diese The- rapieformen als eine Reprasentanz der schulmedizinisch ebenfalls nicht anerkannten Energietherapie an, die jedoch in der alternativ-ganzheitlichen Erganzungsmedizin und Erfahrungsmedizin eine groBe Rolle spielen (vgl. Karch et al. 1998).
5. Sozialisation der Betroffenen
5.1 ASS aus der Innensicht und allgemeine Offentlichkeit
Im Folgenden soll der Komplex der ASS aus der Innensicht, also aus der Sicht von unmittelbar Betroffenen und mittelbar Betroffenen geschildert werden.
Grundlage dieses Teils ist eine Sammelmappe des Kinder- und Jugend- psychiatrischen Dienstes (KJPD) der Schweiz im Kanton Bern (vgl. UPD o.J.). Hier wird die Notwendigkeit einer Fruherkennung betont, ebenso die allgemeine Besorgnis uber das Ansteigen der diagnostizierten Falle. Es wird aber auch Anerkennung gezollt gegenuber dem gewachsenen Be- wusstsein und dem Kenntnisstand nicht nur der betroffenen Community sondern auch einer breiteren Offentlichkeit, was auf die allgemeine Zu- ganglichkeit und die fachliche Fundierung von Publikationen z.B. im Internet zu fuhren ist (vgl. UPD o.J.).
5.1.1 ASS und der individuelle soziale Raum: Fruhe Bezugs- personen
Gleichzeitig werden in im Anhang dieser Publikation Diagnosebogen verof- fentlicht, die zum Teil fur Eltern und Fachpersonen entworfen sind, zum Teil nur fur Fachpersonen, was u.a. an den Schwierigkeiten der Interpretation der erhobenen Daten liegt. Im Folgenden gibt es einige Beispiele von Dia- gnosebogen, die fur fruhe Bezugspersonen (Eltern, Tagesmutter und Krip- penpersonal) und spatere Begleiter wie Kita-Personal und im Bereich der Fruherziehung und Grundschule anwendbar sind. Angelehnt an die Routi- nen der Vorsorgeuntersuchungen von 0-24 Monaten gibt es die AUTU-U- Checklisten fur Autismus. Diese Bogen umfassen die Untersuchungen U1- U5 von 0-7 Lebensmonaten, U6 vom zehnten bis zwolften Lebensmonat und U7 vom 21.-24. Lebensmonat. Unterteilt sind die Fragenkomplexe in die Bereiche Wahrnehmung, Sozialverhalten, Motorik, Sprache und Ess- und Trinkverhalten. Schwerpunkte liegen hier auf den allgemeinen Sym- ptomen wie dem Sozialverhalten (Interaktion und Kommunikation) und auf dem Ess- und Trinkverhalten. Oftmals tritt eine Essstorung als Komorbiditat einer AS-Storung auf, wie in Fallstudie zwei, Greta Thunberg, dargestellt wird (vgl. ebd.).
Relativ einfach aber klar in der Fragestellung, zwar auszufullen vom Fach- personal, jedoch auch sehr geeignet fur besorgte Eltern und eine geeignete Grundlage fur eine Vorab-Verdachtsdiagnose ist CESA (Checkliste zur Er- fassung fruher Symptome des Autismus). CESA behandelt die Aspekte zu Sozialisation, Kommunikation und allgemeines Verhalten in Ja-Nein-Ant- worten, wobei die relevanten Teilaspekte eine gute Ubersicht vermitteln. Positiv bei dieser Checkliste ist anzumerken, dass es eine Extrarubrik Warnsignale gibt, die auf mogliche Entwicklungsdefizite des Kindes hinwei- sen konnen. Solche Anzeichen sind z.B. kein Brabbeln oder Lautieren im Alter von 12 Monaten, keine Gesten (zeigen mit dem Zeigefinger, Winken etc.) mit 12 Monaten, keine einzelnen Worte im Alter von 16 Monaten, kei- ne spontanen 2-Wort-Satze (nichtecholalich im Alter von 24 Monaten) und letztlich jedweder Verlust sprachlicher oder sozialer Fahigkeiten in jedem Alter, also Regression (vgl. Poustka et al. 2004).
Der Explorationsbogen ist fur Eltern leicht anwendbar und liefert fruhzeitig Hinweise, sich moglicherweise an einen Arzt zu wenden (vgl. ebd.).
5.1.2 Qualifizierte Laien und Fachpersonal
Sehr umfangreich und aufwandig, aber sehr detailliert prasentiert sich das Explorationsschema fur fruhkindlichen Autismus. Hier werden Eltern betrof- fener Kinder von Fachpersonen intensiv befragt, wobei den befragten El- tern gegebenenfalls typische Symptome und Defizite erlautert werden sol- len. 47 Items aus den Kategorien gegenseitige soziale Interaktion, Kom- munikation und Sprache, repetitives, restriktives und stereotypes Verhalten, sowie abnorme Entwicklung bis einschliettlich 36. Lebensmonat werden abgefragt (vgl. Miral et al. 2001, S. 131 ff.). Dieses Explorationsschema er- laubt bei entsprechenden Ergebnissen eine fundierte und abschlieBende Diagnose.
Vorsicht ist beim Umgang mit abschlieBend genommenen Daten nach dem M-CHAT (Modified Checkliste for autism in toddlers) geboten (vgl. Bolte 2005).
Die Fragen zu 23 Items sind zum Teil so allgemein gestellt, dass eine klare und eindeutige Antwort oft nicht moglich, oder ihre Aussagekraft auBerst fragwurdig ist. So zum Beispiel Frage 11: „Erscheint ihr Kind jemals ubermattig sensibel gegenuber Larm oder Gerausche?“ (vgl. Poustka et al. 2004) oder Frage 20: „Haben sie sich jemals gefragt, ob ihr Kind gehorlos sein kdnnte?“ (vgl. Poustka et al. 2004). Sechs Items zeigen jedoch eine so hohe diskriminative Kraft, dass alleine sie bei positiver Beantwortung einen mehr als deutlichen Hinweis auf eine Storung im ASS-Bereich nahelegen. Diese Items sind u.a. „Zeigt ihr Kind Interesse an deren Kindern?“ (vgl. Poustka et al. 2004) und „Hat ihr Kind jemals den Zeigefinger benutzt, um auf etwas zu zeigen oder um Interesse fur etwas zu begrunden?“ (vgl. Poustka et al. 2004).
Diese Checkliste ist insbesondere dann fur Eltern geeignet, wenn sie einen Verdacht bezuglich einer ASS-Storung bei ihrem Kind hegen oder diesbe- zuglich in Sorge sind. Diese Liste ist weiterhin eine gute Grundlage fur eine sich periodisch wiederholende Bestandsaufnahme und ebenso geeignet als Handreichung von Fachpersonen an Eltern betroffener Kinder als Ge- sprachsgrundlage mit diesen Fachpersonen. (vgl. Rauh & Fangmeier 2016, S.155 ff.).
Voraussetzung fur eine korrekte Erfassung der Beobachtung ist eine vor- ausgegangene Information an die Eltern betroffener Kinder und deren sys- tematische Unterweisung im Sinne eine Psychoedukation. Nur so konnen sie Partner und Begleiter von Fachpersonen in der Entwicklung ihrer Kinder sein.
5.1.3 Beispiel aus der Praxis: Rolle der qualifizierten Laien
Drei Hamburger Familien, die taglich mit ihren autistischen Sohnen zu- sammenleben, haben eine entsprechende Broschure mit den wichtigsten Beobachtungsitems veroffentlicht (vgl. Cornago 2018, S. 30 ff.)
In einer Zusammenfassung von Eltern betroffener Kinder weisen diese ausdrucklich darauf hin, dass Kinder ihr Verhalten nach beiden Extremen ausrichten konnen, sowohl nach Hyperaktivitat als auch nach Hypoaktivitat (vgl. ebd.). Bei Hypoaktivitat konzentrieren sich die Kinder lange auf Objek- te, Muster oder z.B. Lichtreflexe, oder sie fallen auf durch stereotype bizarre Bewegungen, sie reagieren nicht auf Ansprache oder sie wiederholen soeben gehorte Worte im Sinne der Echolalie. Sie zeigen zum Teil Interes- se an anderen Kindern, spielen aber trotzdem vorwiegend alleine, sie zei- gen sowohl ubertriebenes als auch ein zu geringes Schmerzempfinden, sie sind von bestimmten Geraten besonders fasziniert, haben gleichzeitig aber auch groBe Angst bei deren Betrieb, sie verhalten sich uber eine langere Zeit total passiv und in sich gekehrt, geraten aber auch plotzlich in einen heftigen und unerklarlichen Wutanfall. Ihr Verhalten ist schwer vorauszuse- hen, kann sich in Bruchteilen von Sekunden von einem still dahin flieBen- dem Gewasser in eine Sturzflut verwandeln, die alles mit sich reiBt. (vgl. ebd.).
5.2 Fallbeispiel - Sozialisation aus der Innenansicht der Betrof- fenen
In seinem Buch Autismus einmal anders (vgl. Knauerhase 2016, S.30 ff.) beschreibt Aleksander Knauerhase seine Situation aus der Ich-Erzahler- perspektive. Er weist ausdrucklich auf die Vielfalt der vorhandenen Zustan- de von Autisten hin und wie sie die Welt wahrnehmen, erfahren und dies verarbeiten. Dies liegt in der Natur der ASS mit ihren vielen unterschiedli- chen Komorbiditaten und deren unterschiedlichen Wirkmachtigkeiten im Zusammenwirken des vielseitigen und vielschichtigen AS-Syndroms (vgl. Knauerhase 2016, S. 30).
„Es ist gar nicht einfach zu beschreiben, wie sich ein Overload anfuhlt, ob und wie man ihn bemerkt und was eigentlich wah- renddessen im Autisten vorgeht. Ich muss an dieser Stelle aus- drucklich betonen: die nachfolgende Beschreibung ist sehr indi- viduell und spiegelt nur das wieder, was ich personlich erlebe.“ (Knauerhase 2016, S. 30)
Diese Ausfuhrungen lassen den Schluss zu, dass es auch fur Aussenste- hende, seien es Fachleute oder Laien als Begleiter, nur sehr schwer er- kennbar ist, wenn eine Uberreizung, ein Overload sich ankundigt, um viel- leicht rechtzeitig intervenieren zu konnen.
5.2.1 Sechs Stufen zur Holle
Knauerhase stellt nun sechs Stufen des Erlebens und mogliche Coping- strategien vor. Ausgehend von einer Reizbelastung sieht er in Stufe 1 die mogliche unbewusste Kompensation. In dieser Phase nimmt der Betroffene die Reize zwar wahr, ordnet sie aber als gewohnt und damit vernachlassig- bar ein. Sie storen oder behindern ihn noch nicht massiv (vgl. Knauerhase 2016, S. 30). Stufe 2 beschreibt er als bewusste Kompensation. Er nimmt die Reize bewusst als storend und als Stressfaktoren wahr, versucht sie aber bewusst zu ignorieren, indem er sich ablenkt (vgl. ebd.). Diese Mog- lichkeit konnte das Ergebnis einer kognitiven Verhaltenstherapie sein, die auf den Prinzipien der Selbstbeobachtung in Achtsamkeit beruht. In dieser Phase konnen nicht nur Fachleute, sondern auch qualifizierte Laien als Be- gleiter oder sogar informierte Kollegen mit Rucksicht und Verstandnis mit begleitenden Interventionen eingreifen.
Auf Stufe 3, der Konzentration, verstarkt, so Knauerhase, der Betroffene seine Ablenkungs- und Konzentrationsbemuhungen, was aber ab einem bestimmten Punkt der Bemuhungen kontraproduktiv werden kann. Der Stress der Bemuhung der bewussten und aktiven Reizvermeidung mundet in den Overload (vgl. Knauerhase 2016, S. 31). Hier, so Knauerhase, sind die Verhaltensanderungen fur AuBenstehenden am deutlichsten, was die Fruherkennung betrifft.
Die Stufe 4 nennt der Verfasser den Tunnelblick oder das Leben in einem Film (vgl. Knauerhase 2016, S. 31). Auf dieser Stufe ist die Konzentration auf das Ablenkungsobjekt oder die Ablenkungstatigkeit am groBten. Der Blick richtet sich nur noch auf Objekte oder Tatigkeiten. Was jedoch in der Umgebung geschieht, wird nur noch als sogenanntes Grundrauschen wahrgenommen. Knauerhase beschreibt es als die Entstehung einer eige- nen Welt, der autistischen Blase, in die er eintaucht. Dieses Eintauchen wird von auBen jedoch als Ruckzug und Kommunikations- und Interakti- onsabbruch wahrgenommen. Menschen mit ASS kennen typische Situatio- nen, von denen sie wissen, dass fur sie eine bestimmte Gefahr ausgeht. Fur den Verfasser ist es der Weg durch eine FuBgangerzone.
„Spatestens jetzt ist es dringend angesagt, dass ich mich in eine schutzende Umgebung begebe, um mich langsam wieder zu erholen. Da bei mir [...] dieser Tunnelblick schnell und uber- raschend entsteht, bin ich praktisch nie ohne Begleitung unter- wegs. Sie gibt mir Sicherheit und dient als Rettungsanker vor dem zunehmenden Stress.“ (Knauerhase 2016, S. 31)
Die Stufe 5, der Meltdown, entsteht dann, wenn es kein Entrinnen vor der Reizflut gibt:
„ Letztendlich ist ein Meltdown, so wie ich ihn empfinde, das Er- gebnis der Anstrengung und des Kraftverlustes der vorherge- gangenen Stufen. Ich fuhle mich ausgelaugt, extrem erschopft und dauermude, habe teilweise hammernde Kopfschmerzen, die einer Migrane gleichkommen.“ (Knauerhase 2016, S. 32)
Weitere Gerausche werden als extrem stressig empfunden, und die Sinne, insbesondere das sowieso zu schwach ausgebildete Filtersystem, konnen die Flut der Reize nicht mehr bewaltigen. Es entsteht fur AuBenstehende eine aggressive Reaktion. Fur den Menschen mit ASS ist es aber das Ge- genteil:
„Aber auch wenn Autisten in Wut ausbrechen, hat es, wenn es sich um einen Meltdown handelt, nichts mit einem Wutausbruch zutun. Stellen Sie sich vor: Sie stehen in einer Ecke und wer- den bedrangt. Sie konnen sich dem nicht entziehen. Es uber- lastet Sie. Sie mochten fliehen. Irgendwann wird der Fluchtre- flex derart grofc sein, dass Sie um jeden Preis aus dieser Situa- tionen entkommen mochten. Zur Not, indem sie andere Men- schen beiseite stofcen, sich korperlich wehren oder um sich schlagen. Und genau hier wird dann der Meltdown bei der Au- fcenwelt zu einem Wutausbruch. Aber seien Sie sicher: der Autist mochte in der Situation niemandem schaden. Er mochte nur [.] der Situation entkommen“ (Knauerhase 2016, S. 33).
[...]
- Quote paper
- Burcu Arslan (Author), 2020, Autismus. Lebenswelt von Autisten im Kontext von Erziehung, Bildung und Sozialisation, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/542377