Die Textgeschichte von Frank Wedekinds Lulu-Dramenkomplex ist eine wechselvolle. Konzipierte Wedekind die Urfassung mit dem Titel Die Büchse der Pandora. Eine Monstretragoedie bereits während eines Aufenthaltes in Paris (und London) 1892 bis 1894, arbeitete er das Schauerdrama in fünf Akten bis 1913 immer wieder um. Die Urfassung wurde erst Ende der 1980er Jahre wieder entdeckt und 1990 von Hartmut Vinçon in einer historisch-kritischen Ausgabe herausgegeben. Für die Rezeption und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung wurde der – von Wedekind mit Blick auf den Publikumsgeschmack und unter dem Druck der Zensur in weiten Teilen zurückgenommene – Text der Ausgabe letzter Hand (in den gesammelten Werken von 1913) maßgeblich. Ausgehend von den Reflexionsvorgaben, die diese Ausgabe und insbesondere der 1898 dem Erdgeist vorangestellte Prolog in der Zirkusmenangerie bieten, wurde und wird die Figur der Lulu im Erdgeist und der Büchse der Pandora immer wieder als der im Fin de siècle populäre Typus der Femme fatale interpretiert. Gegen diese recht verbreiteten Deutungen Lulus erheben vor allem Interpretationen Einspruch, die sich auf die Pariser Urfassung beziehen. In der „zur Intrige und jeder Berechnung völlig unfähigen“ Protagonistin der Monstretragödie, sei, so diese Interpreten, keine kalkulierende Verführerin zu erkennen.
Im ersten Teil des vorliegenden Buches wird der Begriff der Femme fatale zunächst erörtert. Anschließend setzt es sich mit den weit auseinandergehenden Ansichten der literaturwissenschaftlichen Forschung darüber, ob in der Protagonistin des Wedekindschen Dramenkomplexes der Typus der Femme fatale gestaltet ist, oder nicht, auseinander. Da diese Frage offenbar davon abhängt, welche der Fassungen von Wedekinds Text man einer Interpretation zu Grunde legt, wird zunächst die – dem Charakter einer belle dame sans merci weitgehend widersprechende – Darstellung der Lulu in der Monstretragödie von 1894 erörtert. Anschließend wird anhand geeigneter Textstellen aus der von Erhard Weidl 1989 herausgegebenen Ausgabe des Erdgeist und der Büchse der Pandora, die dem Wortlaut der Ausgabe letzter Hand von 1913 folgt, aufgezeigt, weshalb die Lulu-Figur der späteren Fassungen aus gutem Grund als Femme fatale gesehen werden kann und welche Auswirkungen diese Umgestaltung der Lulu-Figur auf das kritische Potenzial des Stückes hat.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Zwei Gesichter der Lulu
- Anmerkungen zum Motiv der Femme fatale
- Lulu, die Kind-Frau der Monstretragödie
- Die „,bekannteste Femme fatale-Gestalt der deutschen Literatur des fin de siècle“ – Lulu im Erdgeist und der Büchse der Pandora
- Die Lulu des Erdgeists
- Die Lulu der Büchse der Pandora
- Dissonanzen und ihre Wirkung
- Fazit: Lulu, der „Prototyp“ der Femme fatale?
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit setzt sich mit der Figur der Lulu in Frank Wedekinds „Lulu-Dramenkomplex“ auseinander. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Frage, ob Lulu als „Prototyp“ der Femme fatale zu verstehen ist, und wie diese Figur in den verschiedenen Fassungen des Werkes gestaltet wird.
- Die Entwicklung der Lulu-Figur in den verschiedenen Fassungen von Wedekinds Werk
- Der Begriff der Femme fatale und seine Relevanz für die Interpretation der Lulu-Figur
- Die Darstellung Lulus in der Monstretragödie und in den späteren Fassungen Erdgeist und Die Büchse der Pandora
- Die Auswirkungen der Umgestaltung der Lulu-Figur auf das kritische Potenzial des Stückes
- Die Beziehung zwischen Lulus „unschuldiger“ Darstellung in der Monstretragödie und ihrer Darstellung als verführerische Femme fatale in den späteren Fassungen
Zusammenfassung der Kapitel
- Die Einleitung gibt einen Überblick über die Textgeschichte von Wedekinds Lulu-Dramenkomplex und führt die Frage ein, ob Lulu als Femme fatale zu verstehen ist.
- Das zweite Kapitel untersucht die Figur der Lulu in den verschiedenen Fassungen von Wedekinds Werk. Es beginnt mit einer Analyse des Motivs der Femme fatale und beleuchtet anschließend die Darstellung der Lulu in der Monstretragödie, dem Erdgeist und der Büchse der Pandora.
- Kapitel drei diskutiert die Dissonanzen und ihre Wirkung in Wedekinds Werk. Die Diskussion fokussiert auf die Veränderung der Figur der Lulu und ihre Auswirkungen auf die Interpretation des Werkes.
Schlüsselwörter
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit zentralen Themen wie der Femme fatale, der Entwicklung von Figuren in verschiedenen Textfassungen, dem „Lulu-Dramenkomplex“, der Textgeschichte, der Dramaturgie, der Rezeption und der Interpretation von literarischen Werken.
- Quote paper
- Angela Kauer (Author), 2005, Lulu. Der "Prototyp“ der Femme fatale?, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/52697