Die Frage nach dem Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik ist seit jeher ein Komplex von hoher Brisanz und nicht frei von Spannungen.1 Richtungweisend im Hinblick auf die Einordnung des Verhältnisses beider Disziplinen ist zunächst eine allgemeine Fixierung der Begriffe und des Wesens der Rechtssoziologie sowie der Rechtsdogmatik. I. Das Wesen der Rechtssoziologie Die Rechtssoziologie ist zunächst, wie sich bereits aus dem sprachlichen Sinn herleiten lässt, ein Teil der Soziologie, und zwar derjenige, der sich vornehmlich mit dem Rechtswesen beschäftigt.2 Bei der Rechtssoziologie handelt es sich um eine empirische Wissenschaft mit eigenen Erkenntniszielen.3 welche die wechselseitige Interdependenz und den funktionalen Zusammenhang zwischen dem Recht und den nicht-rechtlichen Gesellschaftsphänomenen zu ergründen sucht.4 Sie setzt damit voraus, dass es sich bei dem Phänomen Recht um einen Vorgang der gesellschaftlichen Wirklichkeit handelt5, welches der empirischen Forschung zugänglich ist. Der Rechtssoziologe fragt nach der sozialen Wirklichkeit des Rechts und gelangt so zu einer Beschreibung und Erklärung des Rechtslebens. Dies macht deutlich, dass sich die Rechtssoziologie mit Wirklichkeitstatbeständen, d.h. mit dem gesellschaftlichen „Sein“ beschäftigt. II. Die Sichtweise der Rechtsdogmatik Der Begriff der Dogmatik wird insbesondere im Hinblick auf das Recht nicht immer einheitlich verwendet.6 Der Begriff „Dogma“ an sich bedeutet im Griechischen soviel wie „verbindlicher Lehrsatz“ oder „festgelegte Meinung“.7 [...] 1 Heldrich, AcP 186 (1986), 74, 99; Kißler, 2.4.1, 80; Raiser, JZ 1970, 665, 670. 2 Raiser, Das lebende Recht, 23; ders., Einführung in die Rechtssoziologie, 1; Gurvitch, 40; Heldrich, AcP 186 (1986), 74, 78. 3 Röhl, Rechtssoziologie, § 14, 87; Rottleuthner, Rechtstheorie, A. IV. 1), 25. 4 Raiser, Das lebendes Recht, 26; Creifelds, Rechtswörterbuch, Stichwort: Rechtssoziologie, 1113; Rehbinder, Rechtssoziologie, § 1, 2.; Schünemann, 3. Teil, § 12, 2., 73.
5 Raiser, ebenda. 6 Naucke, Rechtsphilosophie, Rn. 6, Fn.1; ders., Sozialwissenschaften, VI., 2., 38; Schlapp, Theorienstrukturen und Rechtsdogmatik, I.1.3, 20; Struck, JZ 1975, 84. 7 Rüthers, Rechtstheorie, § 7, Rn. 310; L. Raiser, DRiZ 1968, 98.
Inhaltsverzeichnis
- A. EINFÜHRENDE ÜBERLEGUNGEN ZUR AUFGABENSTELLUNG
- I. Das Wesen der Rechtssoziologie
- II. Die Sichtweise der Rechtsdogmatik
- III. Strukturelle Unterschiede beider Positionen
- B. DIE GRUNDSÄTZLICHE TRENNUNG VON SEIN UND SOLLEN IN DER RECHTSSOZIOLOGIE MAX WEBERS
- I. Max Webers strikte Scheidung von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik
- 1. Der Gegenstand der Rechtssoziologie aus der Sicht Max Webers oder: die „Stammler-Kritik“
- 2. Das Wesen der Rechtsdogmatik
- II. Juristischer und soziologischer Geltungsbegriff
- 1. Zum Begriff der Geltung einer „Ordnung“
- a) Max Webers Vorstellung von „Ordnung“
- b) Sein Geltungsbegriff
- 2. Die juristische Sichtweise
- 3. Die Geltung aus dem Blickwinkel der Soziologie
- III. Die rationale Entwicklung des Rechts als Kennzeichen der Moderne
- 1. Die Herausbildung einer formal-rationalen Rechtsordnung
- 2. Die „Entzauberung der Welt“ oder: der Idealtyp eines formal-rationalen Rechts
- 3. Max Webers vierstufige Rechtsbetrachtung
- 4. Charakteristika des formal-rationalen Rechts
- 5. Hintergründe der rationalen Gesellschaftsentwicklung
- 6. Rationales Recht als Forderung des modernen Kapitalismus
- 7. Unaustragbarer Gegensatz formaler und materialer Rationalität
- a) Der Richter als „Subsumtionsautomat“ oder: Max Weber als Anhänger der Begriffsjurisprudenz
- b) Die Gefahr der Rematerialisierung des Rechts
- (1) Max Webers Bedenken gegen die Aufweichung des Rechtsformalismus
- (2) Der Kampf gegen die Freirechtsschule
- (a) Das Programm der Freirechtler
- (b) Die Kritik Max Webers an den materialen Tendenzen der Freirechtsbewegung
- 8. Max Webers Prognose künftiger Rechtsanwendungspraxis
- IV. Legitimation durch Verfahren
- V. Das Werturteilsproblem
- 1. Max Webers Thesen zur Werturteilsproblematik
- a) Werturteilsfreiheit im engeren Sinne
- (1) Sein und Sollen als kategorisch verschiedene Ebenen
- (2) Zum Unterschied von normativen und deskriptiven Aussagen
- (3) Der Hintergrund der Werturteilsfreiheit im engeren Sinne
- b) Das Problem der Wertbeziehung
- 2. Immanente und grundsätzliche Kritik
- a) Zur immanenten Kritik
- (1) Die Entstehungsphase
- (2) Die empirische Phase
- (3) Der Verwendungszusammenhang
- b) Die grundsätzliche Kritik
- VI. Zur gegenseitigen Bedeutung und Wechselwirkung beider Disziplinen
- 1. Die Rechtswissenschaft als Gegenstand der Rechtssoziologie
- 2. Die unmittelbare Zugrundelegung empirischer Erkenntnisse in der Rechtsdogmatik aus Sicht Max Webers
- 3. Max Webers Zugeständnis einer technischen Kritik
- 4. Eingeständnis der Unhaltbarkeit seines Trennungsprinzips?
- Die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen in der Rechtssoziologie Webers
- Webers Konzept der rationalen Rechtsentwicklung und seine Kritik an der Freirechtsschule
- Der Geltungsbegriff in juristischer und soziologischer Perspektive
- Das Werturteilsproblem und Webers Forderung nach Werturteilsfreiheit
- Die Wechselwirkung zwischen Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht das Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik anhand der Theorien Max Webers. Ziel ist es, Webers strikte Trennung beider Disziplinen zu analysieren und kritisch zu diskutieren, seine Konzepte von Geltung und rationaler Rechtsentwicklung zu beleuchten und die Bedeutung seiner Werturteilsfreiheit zu erörtern. Die Arbeit konzentriert sich auf Webers Werk "Wirtschaft und Gesellschaft" und seine "Stammler-Kritik".
Zusammenfassung der Kapitel
A. EINFÜHRENDE ÜBERLEGUNGEN ZUR AUFGABENSTELLUNG: Dieses einführende Kapitel legt die Grundlage für die folgende Analyse. Es beschreibt zunächst das Wesen der Rechtssoziologie und die Sichtweise der Rechtsdogmatik, um dann die strukturellen Unterschiede beider Positionen herauszuarbeiten. Diese Einführung dient als notwendiger Kontext, um die komplexen Theorien Max Webers im weiteren Verlauf der Arbeit zu verstehen und zu diskutieren. Die unterschiedlichen methodischen Ansätze und Forschungsgegenstände beider Disziplinen werden prägnant umrissen, um den Leser auf die folgenden Kapitel vorzubereiten, die sich intensiv mit Webers Position auseinandersetzen.
B. DIE GRUNDSÄTZLICHE TRENNUNG VON SEIN UND SOLLEN IN DER RECHTSSOZIOLOGIE MAX WEBERS: Dieses Kapitel bildet den Kern der Arbeit und analysiert Max Webers strikte Trennung von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik. Es untersucht Webers "Stammler-Kritik" und seine Vorstellung vom Gegenstand der Rechtssoziologie. Im Detail werden Webers Geltungsbegriff im Vergleich zur juristischen Sichtweise beleuchtet und die rationale Entwicklung des Rechts als Kennzeichen der Moderne erörtert. Die Kapitel behandeln kritisch Webers Bedenken gegen die Aufweichung des Rechtsformalismus, insbesondere im Kontext der Freirechtsschule, und geben Einblicke in Webers Prognose zur zukünftigen Rechtsanwendungspraxis. Die Diskussion über den unaustragbaren Gegensatz zwischen formaler und materialer Rationalität bildet einen weiteren Schwerpunkt.
VI. Zur gegenseitigen Bedeutung und Wechselwirkung beider Disziplinen: Dieses Kapitel untersucht die Wechselwirkungen zwischen Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik. Es beleuchtet, wie die Rechtswissenschaft Gegenstand der Rechtssoziologie sein kann und wie empirische Erkenntnisse in die Rechtsdogmatik einfließen. Der Abschnitt geht auf Webers Zugeständnis einer technischen Kritik ein und hinterfragt die Unhaltbarkeit seines strikten Trennungsprinzips. Die Synthese der vorherigen Kapitel wird hier vorgenommen, um die gegenseitigen Abhängigkeiten und Möglichkeiten der Kooperation beider Disziplinen aufzuzeigen, ohne Webers grundlegende Position zu relativieren.
Schlüsselwörter
Rechtssoziologie, Rechtsdogmatik, Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Stammler-Kritik, Geltungsbegriff, Werturteilsfreiheit, rationale Rechtsentwicklung, formale Rationalität, materielle Rationalität, Freirechtsschule, Sein und Sollen.
Häufig gestellte Fragen zu: Analyse des Verhältnisses von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik nach Max Weber
Was ist der Hauptfokus dieser Arbeit?
Diese Arbeit analysiert das Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik, insbesondere im Hinblick auf die Theorien Max Webers. Im Mittelpunkt steht Webers strikte Trennung beider Disziplinen, seine Konzepte von Geltung und rationaler Rechtsentwicklung sowie das Problem der Werturteilsfreiheit.
Welche Werke Max Webers stehen im Zentrum der Untersuchung?
Die Arbeit konzentriert sich hauptsächlich auf Webers Werk "Wirtschaft und Gesellschaft" und seine "Stammler-Kritik".
Welche zentralen Themen werden behandelt?
Die Arbeit behandelt die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen in der Rechtssoziologie Webers, sein Konzept der rationalen Rechtsentwicklung und seine Kritik an der Freirechtsschule, den Geltungsbegriff aus juristischer und soziologischer Perspektive, das Werturteilsproblem und Webers Forderung nach Werturteilsfreiheit sowie die Wechselwirkung zwischen Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik.
Wie ist die Arbeit strukturiert?
Die Arbeit gliedert sich in mehrere Kapitel. Ein einführendes Kapitel beschreibt das Wesen der Rechtssoziologie und der Rechtsdogmatik und deren strukturelle Unterschiede. Der Hauptteil analysiert Webers strikte Trennung beider Disziplinen, seine "Stammler-Kritik", seinen Geltungsbegriff und die rationale Rechtsentwicklung. Ein weiteres Kapitel untersucht das Werturteilsproblem und die Wechselwirkungen zwischen den beiden Disziplinen.
Was ist die "Stammler-Kritik" und ihre Bedeutung in dieser Arbeit?
Die "Stammler-Kritik" bezieht sich auf Max Webers Kritik an Rudolf Stammler und dessen Ansatz in der Rechtsphilosophie. In dieser Arbeit dient sie als Grundlage für Webers Verständnis des Gegenstands der Rechtssoziologie und der Abgrenzung zur Rechtsdogmatik.
Wie definiert Weber den Geltungsbegriff?
Die Arbeit untersucht Webers Geltungsbegriff im Vergleich zur juristischen Sichtweise. Es wird gezeigt, wie sich Webers soziologischer Geltungsbegriff von dem juristischen unterscheidet.
Welche Rolle spielt die "rationale Rechtsentwicklung" in Webers Theorie?
Webers Konzept der rationalen Rechtsentwicklung als Kennzeichen der Moderne ist ein zentrales Thema. Die Arbeit analysiert, wie Weber die Herausbildung einer formal-rationalen Rechtsordnung versteht und welche Kritik er an Abweichungen von diesem Ideal, insbesondere durch die Freirechtsschule, übt.
Welche Bedeutung hat das Werturteilsproblem in der Arbeit?
Das Werturteilsproblem und Webers Forderung nach Werturteilsfreiheit werden ausführlich erörtert. Die Arbeit untersucht Webers Argumentation für eine strikte Trennung von Sein und Sollen in der wissenschaftlichen Arbeit.
Wie sieht die Wechselwirkung zwischen Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik nach Weber aus?
Die Arbeit untersucht die Wechselwirkungen und gegenseitigen Abhängigkeiten von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik. Sie beleuchtet, inwieweit Weber eine Kooperation beider Disziplinen für möglich hält, trotz seiner Forderung nach strikter Trennung.
Welche Schlüsselwörter charakterisieren den Inhalt der Arbeit?
Schlüsselwörter sind: Rechtssoziologie, Rechtsdogmatik, Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Stammler-Kritik, Geltungsbegriff, Werturteilsfreiheit, rationale Rechtsentwicklung, formale Rationalität, materielle Rationalität, Freirechtsschule, Sein und Sollen.
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- Stefan Redlin (Author), 2004, Das Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik am Leitfaden der Auffassung Max Webers, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/35794