Bis heute zählt "Emilia Galotti" zu den meist aufgeführten Stücken auf deutschsprachigen Bühnen. Ob in den jüngsten Inszenierungen am Hamburger Thalia Theater, am Deutschen Theater in Berlin oder am Wiener Burgtheater, Gotthold Ephraim Lessings Trauerspiel ist ein wahrer „Bühnen-Evergreen“. Dass das Stück knapp 240 Jahre nach seiner Entstehung noch immer modern ist, liegt vor allem an der Psychologie der Figuren. In "Emilia Galotti" findet man komplexe, getriebene Charaktere wie Emilias Vater Odoardo Galotti, dessen ambivalentes Auftreten eine Vielzahl von Lesarten ermöglicht.
Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, sollen im Folgenden drei dieser Lesarten exemplarisch ausgelotet werden. Zu untersuchen ist erstens, ob es sich bei Odoardo Galotti um einen Typus oder einen Charakter handelt. Zweitens soll gefragt werden, ob der alte Galotti überhaupt ein guter Vater ist. Drittens soll erläutert werden, inwiefern der Mann Odoardo Galotti in einer Krise steckt, denn immerhin tötet er seine Tochter. Zur Beantwortung dieser Fragen werden dieselben in entsprechende theoretische Kontexte eingebettet.
Es handelt sich dabei um Theorien zur Gattungsgeschichte des Dramas, zur Kulturgeschichte von Vaterschaft und Familie sowie um Theorien der Männlichkeitsforschung. In auffälligem Widerspruch zu den vielfältigen Deutungen des Dramas und seiner Figuren steht der simple, schnell erzählte Plot. Es stehen sich zwei Konfliktparteien gegenüber, auf der einen Seite der Prinz Hettore Gonzaga mit seinem Kammerherrn, dem Marchese Marinelli, auf der anderen Seite die Familie Galotti.
Der Prinz verliebt sich in die Tochter der Galottis, Marinelli lässt sie auf das Schloss seines Herrn entführen. Hier kommt es zur Katastrophe: Emilia will nicht als eine weitere Mätresse des Prinzen enden, obwohl sie sich durchaus zu ihm hingezogen fühlt, und lässt sich deshalb von ihrem Vater erstechen. Gotthold Ephraim Lessing hat für sein Trauerspiel den antiken Virginia-Stoff modifiziert. Einerseits hat er die Handlung in die damalige Gegenwart versetzt, andererseits dessen politische Dimension gestrichen. Die Figuren hat Lessing frei erfunden. Wie Monika Fick betont, ist der Inhalt des Trauerspiels nur scheinbar simpel und klar, denn bei genauerem Hinsehen zeigen sich zahlreiche Doppelböden, offene Fragen und Widersprüche. Bis heute verweigert sich "Emilia Galotti" einer allumfassenden Deutung, wovon die intensive Forschungsarbeit zeugt.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Forschungsüberblick zu Emilia Galotti
- 3. Odoardo Galotti - Typus oder Charakter?
- 3.1 Definition und Entwicklung von Typus, Typenkomödie und Charakter
- 3.2 Odoardo Galotti als Charakter
- 4. Odoardo Galotti - ein guter Vater?
- 4.1 Kulturgeschichte der Vaterschaft
- 4.2 Emilia Galotti
- 4.2.1 Die schwache Tochter
- 4.2.2 Zwei Elternteile, zwei Erziehungen
- 4.2.3 Verspätete Vaterschaft
- 4.3 Claudia Galotti
- 4.4 Vom tugendhaften Vater zum cholerischen Patriarchen
- 5. Odoardo Galotti – ein Mann in der Krise?
- 5.1 Theorien und Zielsetzung der Männlichkeitsforschung
- 5.2 Krisensymptome bei Odoardo Galotti
- 5.2.1 Verunsicherter Vater, verunsicherter Mann
- 5.2.2 Die Rivalität mit dem Prinzen
- 6. Schlussbemerkung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die vielschichtige Figur des Odoardo Galotti in Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“. Ziel ist es, drei zentrale Lesarten der Figur zu beleuchten: Handelt es sich bei Odoardo Galotti um einen Typus oder einen Charakter? Ist er ein guter Vater? Und steckt er in einer persönlichen Krise? Die Analyse wird durch Theorien der Gattungspoetik, der Kulturgeschichte der Vaterschaft und der Männlichkeitsforschung gestützt.
- Die gattungshistorische Einordnung der Figur Odoardo Galottis im Spannungsfeld zwischen Typus und Charakter.
- Die Analyse der Vater-Tochter-Beziehung und die Bewertung von Odoardos Rolle als Vater.
- Die Untersuchung möglicher Krisensymptome bei Odoardo Galotti im Kontext der Männlichkeitsforschung.
- Die Interpretation des ambivalenten Verhaltens Odoardos im Kontext des Dramas.
- Die Einbettung der Figureninterpretation in relevante literaturwissenschaftliche Forschungsansätze.
Zusammenfassung der Kapitel
1. Einleitung: Die Einleitung führt in die Thematik ein und begründet die Auswahl der drei zentralen Fragestellungen zur Figur des Odoardo Galotti: seine Einstufung als Typus oder Charakter, seine Rolle als Vater und seine mögliche Krise. Sie stellt die Vielschichtigkeit der Figur gegenüber dem scheinbar einfachen Plot des Dramas und kündigt die Einbettung der Analyse in theoretische Kontexte an, insbesondere Theorien zur Gattungsgeschichte des Dramas, zur Kulturgeschichte von Vaterschaft und Familie sowie zur Männlichkeitsforschung. Der Fokus liegt auf der Ambivalenz der Figur und dem Potential für vielschichtige Interpretationen.
2. Forschungsüberblick zu Emilia Galotti: Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die umfangreiche Forschungsliteratur zu Lessings „Emilia Galotti“. Es werden verschiedene Forschungsansätze systematisiert, darunter politische, literatursoziologische, geistesgeschichtliche, philosophische, psychoanalytische und feministische Interpretationen. Besonders hervorgehoben wird die Vielfalt der Deutungen, die sich mit dem Verhältnis zwischen Emilia und ihrem Vater auseinandersetzen, und die Tatsache, dass die neuere Forschung sich oft auf Einzelaspekte des Stücks konzentriert, anstatt auf Gesamtinterpretationen.
3. Odoardo Galotti – Typus oder Charakter?: Dieses Kapitel befasst sich mit der gattungsgeschichtlichen Einordnung der Figur Odoardo Galotti im Spannungsfeld zwischen Typus und Charakter. Es analysiert die Definition und Entwicklung dieser beiden Konzepte im Kontext der Entstehung von „Emilia Galotti“. Der Schwerpunkt liegt darauf, die Merkmale von Typus und Charakter zu definieren und zu untersuchen, inwieweit Odoardo Galotti diesen entspricht. Die Analyse berücksichtigt die Entwicklung der Dramatik im 18. Jahrhundert und ihre Auswirkungen auf die Figurenzeichnung.
4. Odoardo Galotti - ein guter Vater?: Dieses Kapitel untersucht die Rolle Odoardos als Vater im Kontext der Kulturgeschichte der Vaterschaft. Es analysiert seine Beziehung zu Emilia und Claudia Galotti. Die Analyse betrachtet Odoardos Erziehungsmethoden, seine ambivalente Beziehung zu seinen Töchtern und seine Reaktion auf die Bedrohung durch den Prinzen. Der Fokus liegt auf den kulturellen Erwartungen an Väter im 18. Jahrhundert und dem Vergleich mit Odoardos Handlungen und Entscheidungen.
5. Odoardo Galotti – ein Mann in der Krise?: Dieses Kapitel untersucht Odoardo Galotti als Mann in einer Krise. Es bezieht Theorien der Männlichkeitsforschung mit ein und analysiert seine Handlungen und Entscheidungen im Licht dieser Theorien. Der Fokus liegt auf seinen Krisensymptomen, seinen Konflikten mit dem Prinzen und seiner Verunsicherung als Vater und Mann. Es wird die Frage untersucht, inwieweit die Krise Odoardos zum tragischen Ende des Stücks beiträgt.
Schlüsselwörter
Emilia Galotti, Odoardo Galotti, Lessing, Typus, Charakter, Vater-Tochter-Beziehung, Männlichkeitsforschung, Krise, Tugend, Verführbarkeit, Patriarchat, Trauerspiel, Gattungsgeschichte.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zu „Emilia Galotti“: Odoardo Galotti - Typus, Vater und Mann in der Krise
Was ist der Gegenstand dieser Arbeit?
Diese Arbeit analysiert die komplexe Figur des Odoardo Galotti in Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“. Sie untersucht drei zentrale Aspekte: Ob Odoardo ein Typus oder ein Charakter ist, ob er ein guter Vater war und ob er sich in einer persönlichen Krise befand. Die Analyse stützt sich auf Theorien der Gattungspoetik, der Kulturgeschichte der Vaterschaft und der Männlichkeitsforschung.
Welche Themenschwerpunkte werden behandelt?
Die Arbeit behandelt die gattungsgeschichtliche Einordnung Odoardos zwischen Typus und Charakter, die Analyse seiner Vater-Tochter-Beziehung, die Untersuchung möglicher Krisensymptome bei ihm im Kontext der Männlichkeitsforschung, die Interpretation seines ambivalenten Verhaltens und die Einbettung der Figureninterpretation in relevante literaturwissenschaftliche Ansätze.
Wie ist die Arbeit strukturiert?
Die Arbeit besteht aus einer Einleitung, einem Forschungsüberblick zu „Emilia Galotti“, Kapiteln zu Odoardo als Typus/Charakter, als Vater und als Mann in der Krise, sowie einer Schlussbemerkung. Jedes Kapitel untersucht einen der genannten Aspekte detailliert und bezieht relevante Theorien ein.
Wie wird Odoardo Galotti gattungsgeschichtlich eingeordnet?
Kapitel 3 untersucht Odoardo im Spannungsfeld zwischen Typus und Charakter. Es analysiert die Definition und Entwicklung dieser Konzepte im Kontext der Entstehung von „Emilia Galotti“ und untersucht, inwieweit Odoardo diesen entspricht. Die Analyse berücksichtigt die Entwicklung der Dramatik im 18. Jahrhundert.
Wie wird Odoardos Rolle als Vater bewertet?
Kapitel 4 analysiert Odoardos Beziehung zu Emilia und Claudia Galotti, seine Erziehungsmethoden und seine Reaktion auf die Bedrohung durch den Prinzen. Es betrachtet die kulturellen Erwartungen an Väter im 18. Jahrhundert und vergleicht diese mit Odoardos Handlungen.
Wird Odoardo als Mann in der Krise dargestellt?
Kapitel 5 untersucht Odoardo im Kontext der Männlichkeitsforschung. Es analysiert seine Handlungen und Entscheidungen im Licht dieser Theorien, konzentriert sich auf seine Krisensymptome, Konflikte mit dem Prinzen und seine Verunsicherung als Vater und Mann, und untersucht den Einfluss seiner Krise auf das tragische Ende des Stücks.
Welche Forschungsliteratur wird berücksichtigt?
Kapitel 2 bietet einen Überblick über die umfangreiche Forschungsliteratur zu „Emilia Galotti“, systematisiert verschiedene Forschungsansätze (politisch, literatursoziologisch, geistesgeschichtlich, philosophisch, psychoanalytisch, feministisch) und hebt die Vielfalt der Deutungen zum Verhältnis zwischen Emilia und ihrem Vater hervor.
Welche Schlüsselwörter charakterisieren die Arbeit?
Schlüsselwörter sind: Emilia Galotti, Odoardo Galotti, Lessing, Typus, Charakter, Vater-Tochter-Beziehung, Männlichkeitsforschung, Krise, Tugend, Verführbarkeit, Patriarchat, Trauerspiel, Gattungsgeschichte.
Welche Schlussfolgerung zieht die Arbeit?
Die Schlussbemerkung fasst die Ergebnisse der Analyse zusammen und bietet eine umfassende Interpretation der Figur Odoardo Galotti unter den drei untersuchten Aspekten. (Der genaue Inhalt der Schlussfolgerung ist in der bereitgestellten Zusammenfassung nicht explizit aufgeführt.)
- Quote paper
- Michael Thiele (Author), 2013, Odoardo Galotti. Dimensionen einer Dramenfigur, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/344787