In den 1970ern und 1980ern konnte man in der deutschen Literaturlandschaft den Versuch einer literarischen Aufarbeitung der zurückliegenden NS-Vergangenheit feststellen: die sogenannte Väterliteratur. Diese zielte auf eine Abrechnung, auf einen radikalen Bruch, mit der Vätergeneration; sie stand – nach dem Zivilisationsbruch – im Zeichen der Anklage und konfliktträchtigen Auflehnung.
In den späten 1990ern wandelte sich jedoch dieses Bild der NS-Aufarbeitungsliteratur. Plötzlich fragten sich die Schriftsteller: Was verbindet mich überhaupt mit meinen Großeltern? Mit meinen Eltern? Was verbindet mich überhaupt n o c h mit der NS-Zeit? Wie lässt sich – nach dem, was war – überhaupt noch ein Familiennarrativ herstellen, das auf Gemeinsamkeit beruht?
Mindestens zwei Antworten findet man hierzu in der deutschsprachigen Literatur: Entweder wird mittels einer Strategie erzählt, die die jeweilige (Täter-)Generation entlastet, oder durch eine Strategie, die zwar bewusst die Entlastung verwehrt, aber – interessanterweise – dennoch eine gewisse Nähe zu den Eltern, zu den Großeltern, zu den potentiellen Tätern sucht.
Letztere Strategie verfolgt auch Uwe Timm in seinem Text "Am Beispiel meines Bruders" aus dem Jahr 2003.
Ausgehend von der eigenen Erinnerung an seinen Bruder Karl-Heinz Timm, der achtzehnjährig freiwillig der Waffen-SS beigetreten und 1943 nach schwerer Kriegsverletzung gestorben war, rekonstruiert Uwe Timm in diesem autobiographischen, äußerst intertextuellen familiären Erinnerungstext die Verstrickung seiner eigenen Familie in den Nationalsozialismus.
Der Autor bzw. das Erzähler-Ich begibt sich gleichsam auf die Suche nach seiner Familiengeschichte; wohl wissend, dass er möglicherweise eine Tätergeschichte rekonstruiert und das Familientabu bricht.
Durch diesen Rekonstruktionsversuch der eigenen Familiengeschichte rekonstituiert sich zugleich auch immer das eigene Ich mit, und um diesen Prozess der Ich-Rekonstruktion soll es in dieser Arbeit hauptsächlich gehen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Rekonstruktion des eigenen Ich?
- Hauptteil
- Am Beispiel des Bruders
- Am Beispiel des Vaters
- Am Beispiel der Mutter und der Schwester
- Schluss: Rekonstruktion des eigenen Ich?
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Uwe Timms „Am Beispiel meines Bruders“ untersucht die Rekonstruktion des eigenen Ichs im Kontext der NS-Vergangenheit. Der Text zeichnet ein Familienpanorama, das durch die Erinnerungen des Autors an seinen Bruder, der der Waffen-SS beigetreten war, erschlossen wird. Timm geht über eine bloße Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte hinaus und erforscht die Verbindung des Individuums mit der Vergangenheit und die Konstruktion der eigenen Identität in diesem Kontext.
- Die Rolle der Erinnerung und des Gedächtnisses in der Rekonstruktion der Familiengeschichte
- Der Einfluss der NS-Vergangenheit auf die Generation der Nachkriegszeit
- Die Suche nach dem eigenen Ich im Spannungsfeld zwischen persönlicher Erfahrung und Familiennarrativ
- Die Bedeutung der Beziehungen zwischen Familienmitgliedern und die Konstruktion von Familientabu
- Die Auseinandersetzung mit dem Trauma der NS-Zeit durch die Perspektive der Generation der Kinder der Täter
Zusammenfassung der Kapitel
Der Text beginnt mit einer Schlüsselerinnerung des Autors an seinen Bruder, die gleichzeitig seine erste bewusste Wahrnehmung seiner eigenen Identität markiert. Diese Erinnerung dient als Ausgangspunkt für die weitere Rekonstruktion der Familiengeschichte. Der Autor beleuchtet die Rolle seines Bruders in der Waffen-SS, die Auswirkungen der NS-Vergangenheit auf die gesamte Familie und die Suche nach einer eigenen Identität im Spannungsfeld zwischen persönlicher Erfahrung und Familiennarrativ.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den Schlüsselbegriffen Erinnerung, Identität, Familiennarrativ, NS-Vergangenheit, Tätergeneration, Nachkriegszeit, Familientabu und interkulturelle Genrevariationen im Familienroman. Der Text untersucht, wie diese Konzepte im Werk von Uwe Timm zusammenspielen und die Rekonstruktion des eigenen Ichs im Kontext der Geschichte prägen.
- Arbeit zitieren
- Alexander Meyer (Autor:in), 2012, Rekonstruktion des eigenen Ich. Zu Uwe Timms "Am Beispiel meines Bruders", München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/309745