Goethes letzter Text seiner "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten", "Das Märchen", 1795 publiziert, lässt sich aufgrund seines wahrhaft märchenhaften Inhalts unschwer als fiktional identifizieren: Eine sprechende Schlange verwandelt sich in eine Brücke, ein Mops in einen Edelstein und ein Riese in eine große Säule – aber wie ist es um das Verhältnis dieses zweifelsfrei fiktionalen Textes zur Realität bestellt?
Seit Veröffentlichung wurde dieser Text Goethes immer wieder als eine Art Allegorie gelesen, deren verschlüsselte Aussage über reale Personen, Begebenheiten oder Institutionen es zu dechiffrieren gelte.
Dass es einen solchen Schlüssel nicht gibt, soll zum einen anhand von Goethes Nachlass plausibel gemacht werden, in dem sich der Dichter zwar weniger über das „Mährchen“ selbst äußert als vielmehr, für uns nicht minder erhellend, ebenso kuriose wie disparate Entschlüsselungsversuche seiner Zeitgenossen (ironisch) kommentiert und beantwortet. Zum anderen gilt für das Märchen, was für fiktionale Welten ganz allgemein gilt: sie sind „univial, d.h. zuerst einmal durch die sie realisierende Darstellungsgesamtheit und deren Interpretation zugänglich.“
Das „Mährchen“ erschien zwar, als einzige Binnenerzählung mit einem Titel überschrieben, seltsam abgetrennt vom Rest der „Unterhaltungen“, ohne dass die Rahmenhandlung anschließend wieder aufgegriffen würde. Seine separierte Stellung sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein Text in einem Text bleibt, also Teil einer Darstellungsgesamtheit. Was die abgerückte Platzierung des „Mährchens“ motiviert haben könnte, gilt es erst im Zuge der Interpretation zu erörtern.
Im Hauptteil der vorliegenden Arbeit soll also in den „Unterhaltungen“ nach Hinweisen gesucht werden, die Status und Intention des „Mährchens“ näher zu bestimmten helfen: Handelt es sich um einen Schlüsseltext, der ein geheimes Wissen, einen verdeckten Kommentar zum Zeitgeschehen oder eine verschlüsselte Botschaft an einen bestimmten Adressatenkreis enthält? Oder werden in den „Unterhaltungen“ die Fiktionalität der Abschlusserzählung und damit die Problematik jeglicher vereinfachender Referenzialisierung bereits thematisiert?
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- 1. Verwirrung ohne Ende
- 2. In jenen unglücklichen Tagen
- 3. Erzählen nach 1789
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Seminararbeit untersucht Goethes „Mährchen“ aus den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ im Hinblick auf seine fiktionalitätstheoretische Bedeutung. Sie beleuchtet die Reaktionen des zeitgenössischen Publikums auf den Text und analysiert dessen Status als vermeintlicher Schlüsseltext.
- Fiktionalitätstheorie und das Mährchen
- Das Verhältnis von Fiktion und Realität im Text
- Die Rolle der Leserinterpretation
- Goethes metafiktionale Äußerungen
- Die Einordnung des „Mährchens“ in den Kontext der „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik der Arbeit ein und stellt die zentrale Fragestellung vor. Kapitel 1 analysiert die Verwirrung, die Goethes „Mährchen“ bei seinen zeitgenössischen Lesern hervorgerufen hat, und beleuchtet die unterschiedlichen Interpretationen des Textes. Kapitel 2 setzt sich mit dem historischen Kontext des Werkes auseinander und untersucht die Rolle des „Mährchens“ im Rahmen der „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“.
Schlüsselwörter
Goethe, „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, „Mährchen“, Fiktionalitätstheorie, Schlüsseltext, Leserinterpretation, metafiktionale Äußerungen, historische Kontext, Roman, Gattung, Genre.
- Quote paper
- R. Fehl (Author), 2012, "An keinen Gegenstand hängen". Goethes "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" als fiktionale Fiktionalitätstheorie, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/308103