Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert hatte sich in England ein wahrer Kult des Ästhetizismus entwickelt, der schließlich zur Anbetung des Schönen in Mode, Kunst und Literatur führte. Oscar Wilde war einer der bedeutendsten Vertreter und sogar die führende Figur des Ästhetizismus und der Dekadenz-Bewegung des Fin de Siècle in England, die in den achtziger und neunziger Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Wilde hinterfragte das Wirklichkeitsverständnis der Religion, der Wissenschaft, der Natur und des Lebens und schuf damit erste Ansätze einer neuen Kunst- und Weltauffassung, die Horstmann mit den Begriffen des „Ästhetizismus und Dekadenz“ bezeichnet hat. Unter den Widersprüchen und der Hohlheit seiner Zeit leidend empfand er diese als Zeichen einer niedergehenden Welt: „Fin de siècle“ und „Fin du globe“. Seine Reaktion als Ästhet war die Flucht aus der bedrückenden Wirklichkeit in das Reich der Kunst; Ästhetik ersetzte die Moral, ethische Werte lösten sich in Geschmacksurteile auf, aus gut und böse wurde schön und hässlich und zum Maßstab seiner ästhetischen Lebensgestaltung wurde der Stil. Der Künstler wird zum Schöpfer aller Dinge, das Leben ein Kunstwerk und jeder Mensch ein Künstler. Sein Dandytum, „das Paradoxon in der Sprache der Kleidung“ , war der Versuch einer künstlerischen Lebensumwertung.
In seinem 1891 erschienenen einzigen Roman, Das Bildnis des Dorian Gray , thematisiert er durch alle Kapitel hindurch die Frage der Wechselwirkung zwischen Kunst und Leben sowie Kunst und Moral, indem er seine Protagonisten in langen Gesprächen darüber diskutieren lässt. Er vollführt in seiner literarischen Figur des Dorian Gray die Gestaltung des eigenen Lebens als Kunstwerk, womit seine Kunst-Philosophie zum Bildnis wird und Gestalt annimmt. In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, welche Bedeutung und Funktion der von Oscar Wilde vertretene Ästhetizismus in seinem Roman Das Bildnis des Dorian Gray hat. Steckt hinter diesem Impuls ein tieferes Weltverständnis oder sogar eine Erkenntnistheorie oder ist darin lediglich eine Fluchtbewegung aus der dekadenten Gesellschaft seiner Zeit zu sehen? Dazu werden die Begriffe „Ästhetizismus“ und „Dekadenz“ in Verbindung mit dem „fin de siècle“ genauer untersucht, die Rezeption der Idee des „l'art pour l'art“ und die intertextuellen Bezüge zu Théophile Gautier.
Inhaltsverzeichnis
- Einführung
- Ästhetizismus und Dekadenz
- Wildes Ästhetizismus in Das Bildnis des Dorian Gray
- Ästhetizismus als sinnstiftende Alternative und als Erkenntnistheorie
- Ästhetizismus als Flucht vor einer dekadenten Gesellschaft?
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht die Bedeutung und Funktion des von Oscar Wilde vertretenen Ästhetizismus in seinem Roman Das Bildnis des Dorian Gray. Es wird analysiert, ob hinter diesem Impuls ein tieferes Weltverständnis oder sogar eine Erkenntnistheorie steckt oder ob darin lediglich eine Fluchtbewegung aus der dekadenten Gesellschaft seiner Zeit zu sehen ist.
- Der Begriff des Ästhetizismus und seine Verbindung mit Dekadenz und dem fin de siècle
- Die Rezeption der Idee des „l'art pour l'art“ und die intertextuellen Bezüge zu Théophile Gautier
- Oscar Wildes Kunstbegriff und seine daraus resultierende ästhetische Weltsicht
- Der Einfluss von Friedrich Nietzsche auf Wildes Denken
- Die Moralität des Ästhetizismus und seine Folgen für den Einzelnen
Zusammenfassung der Kapitel
- Die Einleitung führt in die Thematik des Ästhetizismus und die Bedeutung Oscar Wildes als Vertreter dieser Bewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert ein. Es wird auf die gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründe sowie Wildes Lebenswandel und seine Kritik an der bestehenden Weltordnung eingegangen.
- Das Kapitel „Ästhetizismus und Dekadenz“ beleuchtet die Entstehung und Entwicklung der beiden Begriffe sowie ihre Verbindung zum „fin de siècle“. Der Einfluss von Théophile Gautier und seiner Idee des „l'art pour l'art“ wird ausführlich dargestellt.
- Im Kapitel „Wildes Ästhetizismus in Das Bildnis des Dorian Gray“ werden die Gespräche der Romanfiguren über die Wechselwirkung zwischen Kunst, Leben und Moral analysiert. Es wird gezeigt, wie Wilde in seiner literarischen Figur des Dorian Gray die Gestaltung des eigenen Lebens als Kunstwerk darstellt und damit seine Kunst-Philosophie zum Bildnis werden lässt.
- Das Kapitel „Ästhetizismus als sinnstiftende Alternative und als Erkenntnistheorie“ untersucht die ästhetizistische Geisteshaltung als Versuch, übergeordnete Sinnzusammenhänge gegenüber einer bloß faktischen Existenz zu konstruieren. Die Ästhetik wird dabei selbst zum neuen Wertesystem und das Autonomiepostulat der Kunst als Streben nach einer besseren Wirklichkeit angesehen.
- Das Kapitel „Ästhetizismus als Flucht vor einer dekadenten Gesellschaft?“ beleuchtet die Kritik Oscar Wildes an der viktorianischen Gesellschaft und seine Suche nach Lebensalternativen. Es wird diskutiert, inwiefern der Ästhetizismus als Ausdruck einer dekadenten Gesellschaft oder als Möglichkeit der Abgrenzung von ihr angesehen werden kann.
Schlüsselwörter
Die Arbeit fokussiert auf die Schlüsselbegriffe Ästhetizismus, Dekadenz, fin de siècle, l'art pour l'art, Théophile Gautier, Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray, Kunst, Moral, Leben, Sinn, Erkenntnis, Gesellschaft, Kritik, Lebensalternative, und Dorian-Gray-Syndrom.
- Quote paper
- Andreas Meyer (Author), 2014, Ästhetizismus als Flucht vor einer dekadenten Gesellschaft? Oscar Wildes ästhetische Weltsicht in „Das Bildnis des Dorian Gray“, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/284587