„Hat Sie ein Zahnarzt schon mal in Stress versetzt und Ihnen vielleicht wehgetan? Wie haben Sie reagiert? Haben Sie vielleicht die Fingernägel in die Handballen gepresst, so dass es wehtut, dass Sie rote Stellen auf der Haut hatten? Und haben Sie das vielleicht als hilfreich empfunden, um mit der Anspannung, der Angst und dem Schmerz umzugehen? Ist es also eine Verhaltensauffälligkeit, wenn sich jemand selbst Schmerzen zufügt? Oder ist auch das etwas, was wir durchaus selbst als sehr effektiv und sinnvoll erleben können?“ (Klauß 2006 (1), 2)
Verhaltensweisen sind nicht an sich auffällig. Das Verhalten, das ein Mensch beim Zahnarzt zeigt, wird wahrscheinlich nicht als auffällig oder problematisch beschrieben werden. Betrachtet man diese Verhaltensweise jedoch ohne den Kontext („beim Zahnarzt“), fragt man sich vielleicht, welchen Sinn das Verhalten hat – erkennt man dies nicht, gilt es vermutlich als problematisch. Das Anliegen der vorliegenden Arbeit soll es sein, die Sinnhaftigkeit hinter verschiedenen Verhaltensweisen zu erfassen, die als problematisch bezeichnet werden.
V.a. bei Menschen, die als „geistig behindert“ beschrieben werden , werden Verhaltensweisen oftmals als auffällig oder problematisch bewertet, da die Nützlichkeit des Verhaltens im Kontext, in dem gezeigt wird, nicht erkannt wird: Eine Stereotypie bewerten wir bei Menschen, die als „geistig behindert“ bezeichnet werden, möglicherweise als auffällig, als etwas, was als „typisch“ bei diesem Personenkreis angesehen wird. „[B]eim Baby finden wir das aber normal, nicht auffällig. Beide tun jedoch im Prinzip das Gleiche“ (ebd., 2).
Die vorliegende Arbeit soll, hinsichtlich dieser einleitenden Bemerkungen, dazu einladen, problematisches Verhalten, wenn es von Menschen gezeigt wird, die als „geistig behindert“ beschrieben werden, nicht mehr als Merkmal der Person zu beschreiben, sondern als funktional im Kontext, in dem es gezeigt wird. Somit soll in den nachfolgenden Ausführungen folgende Forschungsfrage bearbeitet werden:
Inwieweit kann problematisches Verhalten bei Menschen, die als „geistig behindert“ beschrieben werden, aus systemisch-konstruktivistischer Sicht erklärt werden und inwiefern werden solche Erklärungsmuster (von unseren Befragten) genutzt, um pädagogisch zu handeln?
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Problemstellung, Zielsetzung und thematische Eingrenzung
1.2 Vorgehensweise
2. Modelle und Sichtweisen zu „geistiger Behinderung“ und „problematischem Verhalten“
2.1 Personenbezogene Sichtweisen
2.1.1 Was bedeutet „personenbezogen“?
2.1.2 „Geistige Behinderung“ aus personenbezogener Sicht
2.1.3 „Problematisches Verhalten“ aus personenbezogener Sicht
2.1.4 Kritische Anmerkungen
2.2 Soziologische Sichtweisen
2.2.1 Was bedeutet „soziologisch“?
2.2.2 „Geistige Behinderung“ aus soziologischer Sicht
2.2.3 „Problematisches Verhalten“ aus soziologischer Sicht
2.2.4 Kritische Anmerkungen
2.3 Systemisch-konstruktivistische Sichtweisen
2.3.1 Was bedeutet „systemisch“?
2.3.2 Was bedeutet „konstruktivistisch“?
2.3.3 „Geistige Behinderung“ aus systemisch-konstruktivistischer Sicht
2.3.4 „Problematisches Verhalten“ aus systemisch-konstruktivistischer Sicht
3. Exkurs: Angebot zur Bezeichnung von Verhalten, das auffällt
4. Thesenüberblick
5. Anmerkungen zum methodischen Vorgehen des Forschungsprojekts .
5.1 Datenerhebungsinstrument
5.2 Gesprächspartner
5.3 Interviewleitfaden
6. Forschungsergebnisse: Problematisches Verhalten bei Menschen, die als „geistig behindert“ beschrieben werden
6.1 T1 Begriffswahl
6.2 T2 Beschreibungsversuche zum Phänomen „geistige Behinderung“
6.3 T3 Herausforderungen im Berufsalltag
6.4 T4 Beschreibung problematischen Verhaltens
6.5 T5 Betroffene problematischen Verhaltens
6.6 T6 Häufigkeit und Intensität problematischen Verhaltens
6.7 T7 Begründung problematischen Verhalten
6.8 T8 Reaktionen auf problematisches Verhalten
7. Schlussteil
7.1 Zusammenfassende Bemerkungen
7.2 Ausblick
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
1.1 Problemstellung, Zielsetzung und thematische Eingrenzung
„Hat Sie ein Zahnarzt schon mal in Stress versetzt und Ihnen vielleicht wehgetan? Wie haben Sie reagiert? Haben Sie vielleicht die Fingernägel in die Handballen gepresst, so dass es wehtut, dass Sie rote Stellen auf der Haut hatten? Und haben Sie das vielleicht als hilfreich empfunden, um mit der Anspannung, der Angst und dem Schmerz umzugehen? Ist es also eine Verhaltensauffälligkeit, wenn sich jemand selbst Schmerzen zufügt? Oder ist auch das etwas, was wir durchaus selbst als sehr effektiv und sinnvoll erleben können?“ (Klauß 2006 (1), 2)
Verhaltensweisen sind nicht an sich auffällig. Das Verhalten, das ein Mensch beim Zahnarzt zeigt, wird wahrscheinlich nicht als auffällig oder problematisch beschrieben werden. Betrachtet man diese Verhaltensweise jedoch ohne den Kontext („beim Zahnarzt“), fragt man sich vielleicht, welchen Sinn das Verhalten hat - erkennt man dies nicht, gilt es vermutlich als problematisch. Das Anliegen der vorliegenden Arbeit soll es sein, die Sinnhaftigkeit hinter verschiedenen Verhaltensweisen zu erfassen, die als problematisch bezeichnet werden.
V.a. bei Menschen, die als „geistig behindert“ beschrieben werden1, werden Verhaltensweisen oftmals als auffällig oder problematisch bewertet, da die Nützlichkeit des Verhaltens im Kontext, in dem gezeigt wird, nicht erkannt wird: Eine Stereotypie bewerten wir bei Menschen, die als „geistig behindert“ bezeichnet werden, möglicherweise als auffällig, als etwas, was als „typisch“ bei diesem Personenkreis angesehen wird. „[B]eim Baby finden wir das aber normal, nicht auffällig. Beide tun jedoch im Prinzip das Gleiche“ (ebd., 2).
Die vorliegende Arbeit soll, hinsichtlich dieser einleitenden Bemerkungen, dazu einladen, problematisches Verhalten, wenn es von Menschen gezeigt wird, die als „geistig behindert“ beschrieben werden, nicht mehr als Merkmal der Person zu beschreiben, sondern als funktional im Kontext, in dem es gezeigt wird. Somit soll in den nachfolgenden Ausführungen folgende Forschungsfrage bearbeitet werden:
Inwieweit kann problematisches Verhalten bei Menschen, die als „geistig behindert“ beschrieben werden, aus systemisch-konstruktivistischer Sicht erklärt werden und inwiefern werden solche Erklärungsmuster (von unseren Befragten) genutzt, um pädagogisch zu handeln?
Die „fortschreitende[...] Medizinisierung abweichenden Verhaltens“ (Palmowski 2010, 49) trägt dazu bei, dass Verhaltensweisen personenbezogen, d.h. als Merkmal einer Person (die als „geistig behindert“ beschrieben wird), verstanden werden. Mit der vorliegenden Arbeit möchten wir, als Autorinnen, dazu beitragen, dieses Verständnis ein Stück weit aufzulösen und den Blick auf funktionale Aspekte eines Verhaltens zu richten. Diesbezüglich sollen durch Gespräche mit Mitarbeitern der sog. Behindertenhilfe verschiedene Sichtweisen aufgezeigt und hinsichtlich ihrer Nützlichkeit für pädagogisches Handeln reflektiert werden. Dahingehend soll die Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit erläutert werden, die uns dahin bringen soll, unsere Forschungsfrage zu beantworten.
1.2 Vorgehensweise
Im Theorieteil, der an die Einleitung anschließt, werden zunächst einige in der Fachliteratur bevorzugten Beschreibungsmodelle problematischen Verhaltens aufgezeigt. Es werden dahingehend Anmerkungen zu personenbezogenen und soziologischen Erklärungsansätzen gemacht, die gleichsam kritisch hinterfragt werden. Hinsichtlich dessen wird eine, aus unserer Sicht, geeignetere und nützlichere Alternative vorgestellt werden: die systemisch-konstruktivistische Sichtweise. V.a. aus sozial-konstruktivistischer Perspektive möchten wir im dritten Punkt der Arbeit innerhalb eines Exkurses einige Bezeichnungen für Verhalten, das auffällt, anbieten. Hierbei soll auch begründet werden, inwiefern wir den Begriff „problematisches Verhalten“ für die vorliegende Arbeit bevorzugen.
Aus dem Theorieteil ergeben sich insgesamt acht Thesen, über die wir im vierten Punkt der Arbeit einen Überblick geben. Um die Thesen auszuwerten, führten wir, im Rahmen unserer Forschungsarbeit zwölf Interviews durch, die von uns transkribiert wurden, jedoch mit Veröffentlichung der vorliegenden Arbeit aus Gründen der Anonymität aus dem Anhang entfernt wurden. Dies sowie das methodische Vorgehen, d.h. auch, die Begründung für die Wahl des Datenerhebungsinstruments und der Gesprächspartner sowie der Interviewleitfaden, soll im fünften Punkt der Arbeit kurz erläutert werden.
Schließlich erfolgt im sechsten Punkt eine Auswertung der von uns aufgestellten Thesen.
Diesbezüglich wird, unter Einbezug der Interviews, der Fachliteratur und eigener praktischer Erfahrungen, das Verständnis problematischer Verhaltensweisen bei Menschen, die als „geistig behindert“ beschrieben werden, wie es von unseren Interviewpartnern geschildert wird, aufgezeigt. Dabei gehen wir auf mögliche alternative Sichtweisen ein, die pädagogische Handlungsmöglichkeiten erweitern können. Jede These wird zunächst einzeln und später, im Schlussteil der Arbeit, zusammenfassend auswertet.
Hinsichtlich der Genusbezeichnung sei angemerkt, dass wir uns in den folgenden Ausführungen innerhalb unserer Arbeit, aus Rücksicht auf die Lesbarkeit, dazu entschlossen haben, „auf eine weibliche oder gemischte Grammatik, wie es gegenwärtig oft konstruiert wird, zu verzichten“ (Matuarana 1987, 32 In: Sorge 2009, 12).
2. Modelle und Sichtweisen zu „geistiger Behinderung“ und „problematischem Verhalten“
2.1 Personenbezogene Sichtweisen
2.1.1 Was bedeutet „personenbezogen“?
Personenbezogene Ansätze zur Erklärung von Phänomenen wie „geistige Behinderung“ oder „problematisches Verhalten“ stellen das Besondere der Person, d.h. „die Behinderung bzw. Schädigung“ in den Vordergrund und machen dies zur Grundlage für pädagogisches Handeln:
„Personenbezogene Menschenbilder und personenbezogene Erklärungsmodelle menschlichen Verhaltens suchen und lokalisieren die Gründe für eine bestimmte Verhaltensweise immer in der Person, die dieses spezifische Verhalten zeigt.“ (Palmowski 2010, 45)
Seinen Ursprung fand dieses Erklärungsmodell in der Zeit, in der maschinelle Konstrukte zunehmend Bedeutung erlangten und in der u.a. die Dampfmaschine erfunden wurde: Rene Descartes2 prägte vor mehr als 300 Jahren dieses mechanistische und medizinische Menschenbild, indem er u.a. zunächst das Tier als ein maschinelles Wesen erachtete, das von Gott geschaffen und besser konstruiert sei, als eine vom Menschen geschaffene Maschine. Schon vorher verglich Thomas von Aquin3 Tiere mit Uhren, sodass es vermutlich als unumgänglich schien, diese These auch auf den Menschen zu übertragen.
„Die Grundaussage dieses Menschenbildes lautet demnach: Menschen funktionieren möglicherweise genauso wie eine Maschine. In unserem Körper befindet sich oder unser Körper besteht aus einer Art Mechanik, die unser Verhalten steuert und die dafür verantwortlich ist, dass wir richtig funktionieren. Zeigt nun ein Mensch in seinem äußeren Verhalten eine bestimmte Eigentümlichkeit, so hat diese - diesem Menschenbild zufolge - ihre Ursache immer in einer Störung innerhalb dieser Mechanik.“ (ebd., 46)
Diese These erscheint heute absurd und gilt als überholt. Dennoch ist sie die Basis vieler Menschenbilder, bei denen nach außen gezeigtes menschliches Verhalten seine Ursache im Inneren des Einzelnen hat. Die Situation und der Kontext, in dem sich der Mensch, der verschiedenes Verhalten zeigt, befindet, werden hierbei nahezu ausgeblendet und haben keine ursächliche oder auslösende Funktion. Ähnlich findet man dies heute noch bei verschiedenen Diagnoseinstrumentarien, wie dem DSM-IV oder dem ICD-10, bei denen situative, kontextuelle oder funktionale Aspekte außen vor gelassen werden. Dennoch hat sich dieses mechanistische Menschenbild gesellschaftlich verankert, sodass sich vereinzelt implizit daran orientiert wird. Mit Sprachregelungen wie
- „Du tickst doch nicht richtig!“,
- „Der hat eine Schraube locker“,
- „Sie hat einen Knall und sowieso nicht alle Tassen im Schrank!“,
- „Zwischen denen stimmt die Chemie nicht!“ usw.
kann dieses Menschenbild zum Ausdruck gebracht werden. Werden diese Annahmen einer Pädagogik zu Grunde gelegt, kann schlussfolgernd der pädagogische Auftrag nur lauten, „zu versuchen, ein Kind oder Jugendlichen gezielt zu verändern, durch die Behebung der in ihm liegenden Ursachen für auffälliges und unerwünschtes Verhalten“ (ebd., 47). Wird die Ursache im Menschen angenommen, so kann sie auch nur im Menschen behoben werden (durch bspw. medikamentöse Behandlungen). Aus dieser Schlussfolgerung ergibt sich vermutlich auch die Tatsache, dass viele derartige pädagogische Maßnahmen nur eine geringe Wirksamkeit aufzeigen, da sich der Mensch (bzw. seine Mechanik) nicht gern durch Dritte verändern lässt und bei derartigen Bemühungen zu Widerstandshandlungen neigt (vgl. ebd., 45-48). Dennoch haben personenbezogene Konzepte einen enormen Einfluss auf unsere Beobachtungen, Beschreibungen und Erklärungen (vgl. Palmowski 2012, 160), wie sich auch im Folgenden anhand immer noch sehr häufig vertretener personenbezogener Beschreibungen von „geistiger Behinderung“ und „problematischem Verhalten“ zeigen wird.
2.1.2 „Geistige Behinderung“ aus personenbezogener Sicht
Medizinische Sichtweisen
Wird das Phänomen „geistige Behinderung“ aus medizinischer Sicht betrachtet, so wird grundlegend ein zumeist organischer Defekt diagnostiziert, von dem aus verschiedene Syndrome und entsprechende Symptome nach außen hin sichtbar werden. Es wird nach biologischen Ursachen „der geistigen Behinderung“ gesucht: pränatale Fehlentwicklungen des Nervensystems, erbliche Störungen (z.B. Fehlbildungen innerhalb des Nervensystems, Stoffwechselstörungen etc.), hormonelle Erkrankungen, Hirnmissbildungs- und Retardierungssyndrome, Chromosomenanomalien (wie Trisomie 21, 18 und 13), Chromosomendeletionen (Ausfälle von Gensequenzen) oder Chromosomentranslokation (fehlerhafter Austausch bestimmter Gensequenzen). Außerdem spielen exogene Ursachen eine große Rolle, d.h. die pränatale Störung der fetalen Entwicklung durch bspw. Infektionserkrankungen, schädliche Substanzen und intrauteriner Mangelernährung. Der medizinische Ansatz beschäftigt sich weiterhin mit Ursachen, die perinatal auftreten, d.h. zwischen der 24. Schwangerschaftswoche und der ersten Woche nach der Geburt, wie z.B. Schäden aufgrund erworbener Erkrankungen des zentralen Nervensystems, Sauerstoffmangel, Minderdurchblutung des Gehirns oder aber Hirnblutungen. Weiterhin werden postnatale Ursächlichkeiten erforscht, wie z.B. Infektionen des zentralen Nervensystems, Schädel-Hirn-Traumata, Hirntumore, Vergiftungen, Sauerstoffmangel, zerebrale Anfallsleiden und hormonelle Störungen (vgl. Mehler-Wex/Warnke 2008, 177). Die „Schädigung“, die (mit welchem medizinischen Verfahren auch immer) diagnostiziert wird, wird demnach als Ursache für verschiedene Symptome angesehen, sodass Behandlung und Therapie über die Symptome die Ursachen aufspüren und diese heilen bzw. beeinflussen sollen. Dies unterstellt der Person allerdings, dass diese unter der Schädigung leidet, was schon aus den Bezeichnungen wie „Störung“, „Schädigung“, „Defekt“ erkenntlich wird. Das Leiden soll schließlich mit Hilfe von Therapien etc. gelindert werden (vgl. Fischer 2008, 20-21). Dementsprechend gilt die „(geistige) Behinderung“ hier als „eine individuelle Kategorie, der Defekt ist objektivierbar, beim Behindertsein handelt es sich um ein persönliches, weitgehend unabänderliches und daher hinzunehmendes Schicksal“ (Cloerkes 2007, 10).
Auf Lernen, Kognition und IQ-bezogene Sichtweisen
Auf Lernen, Kognition und den Intelligenzquotienten (IQ) bezogene Sichtweisen orientieren sich vorwiegend an Intelligenzmessungen und unterscheiden verschiedene Grade „geistiger Behinderung“ auf der „Grundlage eines IQ-bezogenen Klassifikationssystems“ (Theunissen 2005, 16). Ein Beispiel, in dem „geistige Behinderung“ nach IQ-Werten aufgeschlüsselt und kategorisiert wird, ist die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD-104 ), Kapitel
V: Psychische und Verhaltensstörungen (F00-F99), Intelligenzminderung (F70-F79):
- Leichte geistige Behinderung (Debilität): Eine leichte geistige Behinderung wird hier einem Menschen zugeschrieben, dessen IQ-Wert zwischen 50 und 69 liegt. Laut ICD-10 wäre diese Behinderungskategorie erkennbar anhand von Lernschwierigkeiten in der Schule. Dennoch ist die Fähigkeit zum Arbeiten als Erwachsener gegeben. Möglichkeiten zum Aufbau sozialer Beziehungen und zum Leisten eines Beitrags zur Gesellschaft (was auch immer das bedeuten mag) sind vorhanden.
- Mittelgradige geistige Behinderung: Eine mittelgradige geistige Behinderung wird hier demjenigen zugeschrieben, dessen IQ-Wert zwischen 35 und 49 liegt und der aufgrund dessen deutliche Entwicklungsverzögerungen in der Kindheit aufzeigt sowie später im Erwachsenenalter auch bei alltäglichen Aufgaben Unterstützung benötigt.
- Schwere geistige Behinderung: Eine schwere geistige Behinderung wird einem Menschen zugeschrieben, wenn sein IQ-Wert zwischen 20 und 34 liegt und „andauernde Unterstützung“ (ICD 10, Kap. V, F72 In: WHO 2012) notwendig sei.
- Schwerste geistige Behinderung: Liegt der IQ-Wert einer Person unter 20, so wird ihm, laut ICD-10 eine schwere geistige Behinderung zugeschrieben, die mit „hochgradigen“ Beeinträchtigungen bzgl. der eigenen Versorgung, Kontinenz, Kommunikation und Beweglichkeit einhergeht (vgl. ICD-10, Kap. V, F70-79 In: WHO 2012).
Es ist klar erkennbar, dass diese Einteilungen wiederum Defizite in den Vordergrund stellen und auflisten, was Menschen nicht können (müssen, um diese „Behinderungsstufe“ zugeschrieben zu bekommen), was weder wertschätzend noch, aus unserer Sicht, nützlich ist für die pädagogische Arbeit. Betrachtet man die Einteilung nach IQ-Werten, lassen sich weitere kritische Anmerkungen nicht vermeiden: Zum Einen ist der Intelligenzbegriff bis heute nicht geklärt, d.h. es existieren keine einheitlichen und hinreichenden Definitionen, was unter Intelligenz zu verstehen ist. Zum Anderen ist der Einsatz von sog. Intelligenzfeststellungsverfahren gerade bei Kindern und Jugendlichen, die sich in ihrem „kognitiven Verhalten häufig „anders“ verhalten“ (Fischer 2008, 22), schwierig und führt zu keinerlei aussagekräftigen Ergebnissen. Weiterhin lässt die reine Auflistung negativer Merkmalszuschreibungen, wie sie hier im ICD-10 vorgenommen wird, die „Vielfalt, Komplexität und Wechselwirkung von anderen bzw. weiteren möglichen Bedingungen für die Erklärung und Beschreibung geistiger Behinderung“ (ebd., 22) außer Acht. Es ist also festzuhalten, dass die Ermittlung eines unterdurchschnittlichen Intelligenzquotienten zur Beschreibung „geistiger Behinderung“ keineswegs ausreicht. Außerdem birgt sie keine relevanten Ansatzpunkte für mögliche Fördermaßnahmen, sondern eher die Gefahr, dass mit einem IQ-Wert auch eine Grenze gesehen wird, was möglicherweise zu Unterforderung der Person führen kann (vgl. Theunissen 2005, 23-24).
Im anglo-amerikanischen Sprachraum wurde diesbezüglich ein sog. „Doppelkriterium“ eingeführt, dass neben dem IQ auch „soziale Anpassungsleistungen“ (ebd., 24) berücksichtigt. Klassifikationssysteme, die dies in den Blick nehmen, sind das von der American Psychiatric Association (APA) herausgegebene „Diagnostische und Statistische Handbuch psychischer Störungen“ (DSM-IV5 ) und das Klassifikationssystem der American Association on Intellectual and Developmental Disabilities6 (AAIDD). Aber auch diese beiden Systeme dokumentieren eine defizitorientierte Sichtweise von „geistiger Behinderung“, ähnlich derer des ICD-10. Im DSM-IV wird „geistige Behinderung“ durch drei Kriterien gekennzeichnet: unterdurchschnittlicher Intellekt, Einschränkungen im sozial adaptiven Verhalten und früher „Beginn“ hinsichtlich des Alters. So wird im DSM- IV aufgeführt, dass „geistige Behinderung“ erkennbar wäre durch:
- unterdurchschnittliche, allgemeine intellektuelle Fähigkeiten
- starke Einschränkung der Anpassungsfähigkeit in mindestens zwei der folgenden Bereiche: Kommunikation, eigenständige Versorgung, häusliches Wohnen, soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten, Nutzung öffentlicher Einrichtungen, Selbstbestimmung, Gesundheit und Sicherheit, funktionale schulische Leistungen (Kulturtechniken), Freizeit und Arbeit sowie
- einem Zeitfaktor, sodass der „Beginn der geistigen Behinderung“ (Entwicklungsstörung) vor dem 18. Lebensjahr liegen muss (vgl. Saß, Wittchen, Zaudig 1998, DSM-IV).
Ähnlich wird dies von der AAIDD beschrieben: „Intelectual disability is a disability characterized by significant limitations both in intellectual functioning and in adaptive behavior as expressed in concepotual, social, and practical adaptive skills. This disability originates before age 18“ (American Association on Intellectual and Development Disabilities (AAIDD) 2013). Hierbei dürfte deutlich werden, dass auch diese beiden Klassifikationssysteme die Defizite, welche der Person zugeschrieben werden, in den Blick nehmen und damit kaum Ansätze für pädagogisches Handeln beinhalten. Kritisch sollte hier auch hinterfragt werden, was genau mit „Beginn der geistigen Behinderung“ gemeint ist, wie dies definiert wird und inwieweit solch eine zeitliche Bestimmung überhaupt möglich ist.
Entwicklungspsychologische Sichtweisen
Aus entwicklungspsychologischer Sicht standen sich viele Jahre zwei Positionen unvereinbar gegenüber: Defekt- und Differenztheorien sowie Entwicklungstheorien. Defekt- und Differenztheorien besagen, dass die Entwicklung derer, die als „geistig behindert“ beschrieben werden, nach anderen Gesetzmäßigkeiten verläuft als die Entwicklung „nicht-behinderter Menschen“. So durchlaufen sie bspw. bestimmte kognitive Prozesse nicht, was dazu führt, dass sie sich von anderen Personen „in speziellen, insbesondere kognitiven Funktionen unterscheiden“ (Wendeler 1976, 32 In: Theunissen 2005, 19). Im Gegensatz dazu gehen Entwicklungstheorien davon aus, dass die Entwicklungsstadien, welche durchlaufen werden, grundsätzlich gleich sein, jedoch bei Menschen, die als „geistig behindert“ beschrieben werden, wesentlich langsamer verlaufen, als bei anderen. Heute lässt sich sagen, dass es in der Entwicklung von Menschen mit und ohne geistiger Behinderung viele Gemeinsamkeiten gibt, „die keine Absolutsetzung der Defekt- oder Differenztheorien und damit auch der Annahme eines „kognitiven Andersseins“ gestatten“ (Theunissen 2005, 20). Zudem gibt es auch Unterschiede, u.a. hinsichtlich eines verlangsamten Anstiegs der Entwicklung. Beide Theorien sollten daher als sehr begrenzt betrachtet werden, v.a. diesbezüglich, dass häufig Augenmerk auf die negativen Abweichungen innerhalb der Entwicklung gelegt wird.
2.1.3 „Problematisches Verhalten“ aus personenbezogener Sicht
Verhalten ist etwas Sichtbares, das man beobachten kann (ich sehe, wie ruhig Theo im Sandkasten spielt). Demzufolge scheint es so, als könne man Verhalten auch leicht bewerten (Theo ist ein ruhiges und liebes Kind). Wiederrum könnte man auch normabweichendes Verhalten leicht beobachten und bewerten (Theo hat seinem Spielkameraden Sand ins Gesicht geworfen, er ist ein unartiges Kind). Eine Bewertung von Verhalten kann aber niemals objektiv und beobachterunabhängig geschehen (vgl. Palmowski 2012, 158-159). So könnte ein anderer Beobachter, der Theo im Sandkasten spielen sieht, bspw. bemerken, dass Theo den Sand nicht absichtlich in das Gesicht eines anderen geworfen hat und somit das Verhalten Theos nicht als „unartig“ sondern möglicherweise als „ungeschickt“ bewerten.
Verhaltensweisen, die von der Mehrheit der Gesellschaft als abweichend angesehen werden, gab es zu allen Zeiten in sämtlichen Kulturen. Normabweichungen sind durchaus positiv für die Gesellschaft, denn sie sind ausschlaggebend für die Entwicklung und Veränderung dieser:
„Die Normalität lässt keinen Fortschritt zu; sie ist immer und überall gleichsam nur Reaktion auf schon Bestehendes, sie schafft niemals höhere als die schon geltenden Werte. Es bleibt ewig alles beim Alten, wenn es in der Welt nur Normale gibt.“ (Handelsmann 1928, 256 In: Palmowski 2010, 32)
Dennoch werden Kreativität und Abweichung vom Normalen oftmals erst viel später als positiv anerkannt. Abweichendes Verhalten hat meist zunächst eine negative Reaktion der Gesellschaft zur Folge. Menschen, die durch abweichendes Verhalten Veränderungen bewirken, werden von ihrer Umwelt skeptisch betrachtet (vgl. ebd., 32-33). Der Umgang der Gesellschaft mit dem Besonderen ist stark von der Kultur und der Zeit abhängig, in der es auftritt, denn:
„Das Handeln der Menschen war und ist abhängig von ihren jeweiligen Theorien über abweichendes Verhalten, auf die sie sich jeweils verständigt hatten. Diese Theorien lieferten ihnen hinreichende Erklärungen, die Möglichkeit der Prognose und ein zur Theorie passendes Verhaltensinventar.“ (ebd., 33)
So gibt es auch heute verschiedene Sichtweisen bzw. Erklärungsmodelle zu abweichendem bzw. problematischen Verhalten. Diese sind meist personenbezogen, d.h. die Ursache, oder auch das Problem, werden in der Person verortet. Im Folgenden sollen einige dieser Modelle vorgestellt werden.
Das Typologie-Modell
Das Typologie-Modell besagt, dass es angeborene Typen gibt bzw. Menschen sich hinsichtlich verschiedener Typen einordnen lassen. Der Ursprung dieser Annahme liegt in der klassischen griechischen Periode, in der man zwischen vier menschlichen Temperamenten aufgrund der vermuteten andersartigen Mischungen diverser Körpersäfte unterschied. Der römische Arzt Galenus entwickelte diese Theorie weiter und stellte vier unterschiedliche Typen von Menschen heraus: Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melancholiker. Diese Annahme ist auch heute noch innerhalb von Alltagstheorien weit verbreitet (nicht selten hört man von „cholerischen Chefs“), wobei es innerhalb dieser Typologien eine Vielzahl anderer Klassifizierungen gibt. Kontext und Beziehungsgefüge werden innerhalb dieser Theorie nicht beachtet (vgl. Palmowski 2010, 48-49), weshalb sie sich als nicht hilfreich erweist.
Das genetische Modell
Die genetische Theorie geht davon aus, dass Verhalten genetisch festgeschrieben und somit auch vererbbar ist. Bis heute ist die Frage, inwieweit Verhalten und Handeln des Menschen genetisch festgelegt sind, vielfach diskutiert. Radikale Vertreter dieser Theorie sind der Meinung, dass Verhalten prinzipiell genetisch bedingt ist und somit kommt es zu der Annahme, dass der Kontext, in dem wir uns befinden, keine Rolle für unser Verhalten spielt. Wir verhalten uns so, wie es uns unsere Gene „vorschreiben“. Dies besagen auch Redewendungen, die von der Weitervererbung bestimmter Wesenszüge ausgehen: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“. Solche Äußerungen lassen darauf schließen, dass die Vererbung psychischer Eigenarten von vielen Menschen als glaubhaft anerkannt wird. Derartige Ansichten führen zur zunehmenden Medizinisierung auffälligen Verhaltens und letztlich dazu, dass medikamentöse Behandlungen häufiger werden (vgl. ebd. 2010, 49- 52). Eine Nützlichkeit dieser Theorie ist für uns nicht erkennbar.
Das Instinkt- bzw. Trieb-Modell
Das Instinkt- bzw. Trieb-Modell besagt, dass der Mensch von seinen Trieben und Instinkten in seinem Handeln gesteuert wird. Grundlage dieser Theorie ist die Verhaltensforschung, innerhalb welcher einige Beobachtungen, die im Tierreich gemacht wurden, auf den Menschen übertragen worden sind. Obwohl diese Rückschlüsse vom Tierreich auf den Menschen kritisiert und letztlich wissenschaftlich niedergelegt wurden, sind sie auch heute noch innerhalb von Alltagstheorien weit verbreitet (vgl. ebd., 50). Aggression könnte dementsprechend dazu dienen, sein Revier zu verteidigen oder seine Nachkommen zu schützen (vgl. Palmowski 2012, 161). Sprachliche Ausdrücke, die diese Theorie stützen sind bspw.:
- „Die Schüler müssen sich erst mal abreagieren!“
- „Bei Hans Martin hat sich so einiges aufgestaut!“
- „Das Dampfkesselchen ist wieder mal voll!“
- „Nun lass die Wut doch erst mal raus!“ (Palmowski 2010, 50)
Glaubt man diesem Modell, hätten wir Eigenschaften, von denen wir uns kaum distanzieren könnten. Eine Veränderung unseres Verhaltens wäre nicht denkbar, da wir ständig gezwungen wären, unseren Trieben und Instinkten zu folgen.
Das Dämonologie-Modell
Die Dämonologie gilt als das erste bedeutende Modell zur Erläuterung von abweichendem Verhalten. Grundlage ist die theologische Welterklärung, die besagt, dass es gute und böse Geister gibt.
„Das dämonische Modell der Verhaltensstörungen, im 15. Jahrhundert im Malleus Maleficarum kodifiziert, umfasste alle Verhaltensweisen, die von den bestehenden Normen abwichen, und wurde von eifernden kirchlichen und weltlichen Autoritäten überwacht. Das hervorstechendste Produkt dieses Denkmodells war die Inquisition, eine soziale Bewegung, die u.a. die Diagnose und Behandlung ungewöhnlicher Vorstellungen, esoterischer Überzeugungen und außergewöhnlicher Verhaltensweisen beeinflusste. Die Diagnose „Hexerei“ zu stellen und die ihr entsprechende Behandlung (Verbrennen) anzuordnen, war Aufgabe kirchlicher Institutionen“ (Sarbin 1972, 96 In: Palmowski 2010, 33)
Basierend auf der Überzeugung, dass Dämonen in den Menschen fahren, die sie dann zu bestimmten Handlungsweisen zwingen, ging man davon aus, dass Menschen, die abweichende Verhaltensweisen zeigen, von Dämonen befallen seien. Den Menschen war es so nicht mehr möglich, ihr eigenes Verhalten zu beeinflussen. Die Erklärungsweise der damaligen Zeit ist nachvollziehbar und der Rückschluss auf eine fremde Kraft scheint logisch, denn niemand würde von allein solch eigenartige Verhaltensweisen aufzeigen. Die „Wissenschaft“ der Dämonologie sollte herausstellen, welche unterschiedlichen Dämonen es gibt, woran sie zu erkennen sind und diese schließlich klassifizieren. Diese Erörterungen dienten der Behandlung und Prognose abweichenden Verhaltens. Nach dem damaligen Weltbild galt es als oberstes Ziel, nach dem Tod in den Himmel und nicht in die Hölle zu kommen. War man jedoch von einem Dämon befallen, würde man zwangsläufig in die Hölle geraten. Deshalb wurden „Von-Dämonen-Besessene“ gefoltert, um böse Geister auszutreiben. Diese Erklärung für abweichendes Verhalten war damals unangefochten, hat aber heute keine bzw. nur eine sehr geringe Bedeutung - es würde in heutigen Zeiten wohl kaum jemand abweichendes Verhalten mit dem Vorhandensein von Dämonen begründen - und das, obwohl niemand sagen kann, ob diese Annahme wahr oder falsch ist (vgl. Palmowski 2010, 33-35):
„Alles was wir sagen können, ist, dass wir - vor dem Hintergrund unserer gegenwärtigen Vorstellungen von Welt und Wirklichkeit - dieser Theorie keine besondere Nützlichkeit und Relevanz mehr zugestehen.“ (ebd., 35)
Das Modell erweist sich, unserer Meinung nach, aber von einem anderen Aspekt aus betrachtet, als bedeutsam: Anhand dieses Erklärungsansatzes wird zunächst deutlich, wie abhängig die Interpretation von Verhaltensweisen von der jeweiligen Epoche, der Kultur und dem entsprechenden Weltbild ist. Obwohl diese Theorie über sehr lange Zeit bestand und im Glauben der Menschen verankert war, gelang es, diese niederzulegen bzw. ihr kaum noch Bedeutung zukommen zu lassen. Folglich wird also klar, dass auch andere Modelle, denen heute eine große Bedeutung beigemessen wird, infolge kultureller Entwicklungen in späteren Zeiten als nichtig betrachtet werden könnten.
Das medizinische Modell
Die Grundannahme des medizinischen Modells besagt, dass ein „Patient“ krank ist und geheilt werden muss. Die Heilung ist die Aufgabe eines Arztes: er erstellt eine Diagnose, verordnet die Behandlung, gibt Medikamente und erstellt eine Prognose. Zwar können medizinische Diagnosen und Behandlungen hilfreich sein, aber man ermittelt die im „Patienten“ liegenden Ursachen und sucht innerhalb einer deduktiv-kausalen Vorgehensweise nach erklärenden Faktoren. Problematisches Verhalten ist dementsprechend eine Folge der Krankheit oder eines Defekts (z.B. im Zentralen Nervensystem), den diese/r mit sich bringt. Es wird davon ausgegangen, dass der „Patient“ unter den Symptomen seiner Krankheit, und somit auch unter dem auffälligen Verhalten leidet - psychosoziale Umstände und situative Gegebenheiten werden dabei nicht beachtet.
Die Einordnung und Klassifikation der Krankheit erfolgt anhand von Symptomen und Syndromen, wobei es folglich häufig zu einer Stigmatisierung durch Kategorisierung kommt. Den Menschen („Patienten“) wird dadurch eine passive Rolle zugeschrieben, innerhalb welcher sie kaum Chancen zur Selbstentfaltung und Integration erhalten. Ihre individuelle Persönlichkeit gerät dementsprechend in den Hintergrund, der „Patient“ wird vordergründig über seine Krankheit definiert (vgl. Bosch 2005, 93-97).
Zur psychiatrischen Sicht
Dieser Erklärungsansatz, einer der wissenschaftshistorisch ältesten, entstammt der Medizin. Man unterscheidet zwischen dem Konzept der psychiatrischen Orthodoxie und dem Modell der neueren klinischen Rehabilitation. Innerhalb der psychiatrischen Orthodoxie werden geistige Behinderung, Verhaltensauffälligkeit und Krankheit gleichgeschaltet:
„Lange Zeit wurde diesbezüglich die Meinung vertreten, dass psychische Störungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten bei geistig behinderten Menschen in erster Linie „wesensbedingt“ seien.“ (Theunissen 2005, 54)
Diesbezüglich wären also das Aufzeigen von Verhaltensauffälligkeiten typisch für Menschen, die als „geistig behindert“ beschrieben werden, oder noch deutlicher formuliert: Verhaltensauffälligkeiten „gehören“ zu diesen. Des Weiteren unterscheidet die Theorie zwischen zwei typischen „Störungsbildern“: Menschen mit dem „erethischen Schwachsinn“ verfügen über eine hochgradige Erregbarkeit und Umtriebigkeit. Der „torpide Schwachsinn“ dagegen ist gekennzeichnet durch Antriebsarmut und Apathie. Lange Zeit gab sich die Wissenschaft mit diesen „Erkenntnissen“ zufrieden:
„Mit diesen Persönlichkeitstypen glaubte einst die Fachwelt die psychischen Probleme geistig behinderter Menschen hinreichend erfasst zu haben.“ (ebd., 54)
Innerhalb der neueren Psychiatrie geht man hingegen davon aus, dass „psychische Störungen, Gefühle und damit eine emotionale Konfliktbearbeitung“ (ebd., 54) bei Menschen mit „geistiger Behinderung“ auftreten können. Dazu wurde der Begriff der „Doppeldiagnose“ eingeführt, welcher umschreibt, dass neben einer „Behinderung“ auch eine „psychische Störung“ existieren kann. Der Begriff bewirkt jedoch eine zunehmende Medizinisierung, da er kaum etwas zum Verständnis über abweichendes Verhalten beiträgt. Vielmehr gilt das auffällige Verhalten als Konsequenz einer vorliegenden psychischen Störung, die oftmals auch eine organische Ursache hat. Nach Day (1993) kommt in diesen „Fällen“ „oft ... nur eine psychiatrische Betreuung in Frage“ (Day 1993, 80 In: Theunissen 2005, 55), welche in „gesonderten psychiatrischen Einrichtungen für geistig behinderte Menschen“ (Day 1993, 80 In: ebd., 55) stattfinden soll. Zu den „psychischen Störungen“ werden häufig Diagnosen gestellt, um die Symptomatik einer Störung nach den psychiatrischen Klassifikationssystemen ICD-10 oder DSM-IV einordnen und später „behandeln“ zu können. Dies ist jedoch vor allem bei Menschen, die als „geistig behindert“ beschrieben werden, wenig nützlich, da sich „nämlich sehr oft Verhaltensauffälligkeiten (Symptome) beobachten [lassen], die keinem typischen (bekannten) psychiatrischen Krankheitsbild entsprechen“ (ebd., 56). Mit dem Ansatz der „Doppeldiagnose“ wird somit das traditionelle medizinische Modell fortgeführt, bei dem Beziehungen und Kontext bei der Einordnung und Hinterfragung von Verhaltensauffälligkeiten nicht berücksichtigt werden (vgl. Palmowski 2010, 36-37; Theunissen 2005, 54-56). So werden Beziehungen, Schwierigkeiten und Überforderungssituationen kaum beachtet und gelten höchstens als auslösend oder verstärkend für ungewöhnliche Verhaltensweisen. Das persönliche Umfeld des „Betroffenen“ wird lediglich dahingehend beachtet, dass es das Verhalten „ertragen“ muss. Jedoch erhält nicht nur die Annahme der „Doppeldiagnose“, sondern auch die Annahme der „psychischen Störung“, die auch ohne zweite Diagnose „auftreten“ kann, viel Aufmerksamkeit in Theorie und Praxis:
„Diese Annahme der Existenz psychischer Krankheit als im jeweiligen Menschen angesiedelte Ursache für merkwürdige Verhaltensweisen ist heutzutage weit verbreitet und wird - wie ich vermute - von den meisten Anhängern auch als ontologische Wahrheit betrachtet.“ (Palmowski 2010, 36)
Palmowski (2010) sieht den Grund der Beliebtheit dieser Theorie vor allem in der Verringerung der Komplexität des „Problems“: Denn gilt problematisches Verhalten als „Symptom“ der „Krankheit“ und somit als in der Person liegende „Ursache“, lassen sich simple Handlungsstrategien ableiten: man versucht, den „Betroffenen“ bzw. dessen Verhaltensmuster zu verändern, die Behandlung erfolgt häufig medikamentös (ebd., 35- 37). Diese Vorgehensweisen sind bequemer und zügiger umzusetzen, als sich mit dem Kontext des Gegenübers auseinanderzusetzen. Außerdem müssen eigene Verhaltensweisen nicht hinterfragt werden. Eine positive Wirkung stellen wir jedoch in Frage. Zudem lässt sich auch die Theorie des Vorhandenseins von psychischen Krankheiten nicht mit Wahrheit begründen, denn sie ist eine „paradigmatische Grundannahme, die zu klaren und festgelegten Kriterien der Wahrnehmung, Beurteilung, Erklärung und Behandlung von Verhaltensweisen führt, die man als Verhaltensstörungen zu bezeichnen sich geeinigt hat“ (ebd., 37-38). Innerhalb der Psychologie gibt es weitere Erklärungsansätze für auffälliges Verhalten. Diese sollen im Folgenden dargestellt werden.
Der Erklärungsansatz der Psychoanalyse
Auch die Psychoanalyse besagt, dass Verhalten durch sich in der Person befindende Mechanismen ausgelöst wird:
„Ein psychoanalytisch orientierter Pädagoge führt Störungen im Verhalten auf in der Person liegende - möglicherweise unbewusste - negative Erfahrungen zurück, die idealtypischerweise in der frühen Kindheit und in der Mutter-Kind-Beziehung liegen, und er wird versuchen, diese Zusammenhänge aufzudecken und zu verstehen.“ (Palmowski 2012, 162)
Mit der Auswertung seiner psychischen Struktur soll dem Menschen begreifbar gemacht werden, warum er sich so verhält und nicht anders, denn beim „psychoanalytischen Modell gilt abweichendes Verhalten als ein unverarbeiteter psychischer Konflikt“ (Bosch 2005, 114). Dementsprechend wird ihm die Ursache des Verhaltens aufgezeigt und durch Beseitigung dieser soll auch das abweichende Verhalten verschwinden. Der Kontext wird hierbei nicht als Ursache, sondern höchstens als Auslöser gesehen, wobei es folglich zur Reduzierung von Komplexität kommt (vgl. Palmowski 2010, 54). Aus diesem Grund arbeiten auch heute noch viele Pädagogen mit diesem Modell, was aber kaum zu zufriedenstellenden Ergebnissen führt, denn diese Ansicht kann „nur für lineare Ursache- Wirkungs-Zusammenhänge und damit nur für „triviale Maschinen“ aber nicht für menschliche Systeme gelten“ (ebd., 54).
Der Erklärungsansatz der humanistischen Psychologie
Kern der humanistischen Psychologie ist die Annahme, dass jeder Mensch das Bedürfnis nach Wachstum und Selbstverwirklichung hat (vgl. ebd., 55). Der Leitgedanke lautet:
„Jeder Mensch hat eine individuelle Persönlichkeit, mit der er erreichen kann, was er will.“ (Bosch 2005, 122)
„Es stecken eine Menge Energie, Kreativität, Entfaltungsmöglichkeiten und Fähigkeiten in uns. Jeder
Einzelne kann sich, ungeachtet seines geistigen Niveaus, entwickeln. Jeder kann in seinem persönlichen Leben viel entdecken.“ (ebd., 118)
Es handelt sich also um ein optimistisches Menschenbild, bei dem man Vertrauen in die menschlichen Fähigkeiten setzt - die individuellen Fähigkeiten sind der Ausgangspunkt dieser Theorie (vgl. ebd., 121-123). Des Weiteren geht man davon aus, dass der Mensch abweichende Verhaltensweisen entwickelt, wenn die Bemühungen um Wachstum und Selbstverwirklichung traumatisch beeinflusst werden. So liegt die Ursache des herausfordernden Verhaltens folglich in situativen Bedingungen. Innerhalb der humanistischen Psychologie wird zwar der Kontext als Ursache des Verhaltens betrachtet, dennoch wird pädagogisch-therapeutisches Bemühen in der Absicht ausgeführt, die Person zu verändern, insbesondere Wachstumskräfte in dieser zu mobilisieren. Handlungsstrategien zielen nicht auf eine Veränderung des Kontexts ab (vgl. Palmowski 2010, 55).
Der Erklärungsansatz der Kognitionspsychologie
„Der Mensch handelt so, wie er denkt“, ist die Grundannahme der Kognitionspsychologie, deren Ausgangspunkt die individuelle Wahrnehmung darstellt. Dementsprechend gilt: verhält sich jemand merkwürdig, hat er auch eine merkwürdige Wahrnehmung, merkwürdige Erklärungen und Bewertungen.
„Ein Kognitivist sieht Zusammenhänge zwischen beobachtbaren Verhaltensweisen und den diese begleitenden automatisiert ablaufenden „inneren Dialogen“, die sein Handeln steuern.“ (Palmowski 2012, 232)
Verhält sich ein Kind also bspw. aggressiv, so nimmt dieses auch seine Umgebung als aggressiv wahr. Pädagogisch-therapeutisch wird dann versucht, das Denkmuster bei der Person (im Beispiel: Kind), die das abweichende Verhalten aufzeigt, zu verändern. Der Kontext wird demzufolge ausgeblendet (vgl. Palmowski 2010, 55-56).
Der Erklärungsansatz der Behavioralen Sichtweise (Lerntheorie)
Vertreter der Lerntheorie gehen davon aus, dass ein bestimmter Stimulus eine bestimmte Reaktion bewirkt: Wird eine Person für ein bestimmtes Verhalten gelobt, wird sie es mit großer Wahrscheinlichkeit erneut aufzeigen. Innerhalb dieser Sichtweise wird Lob als soziale Bestätigung betrachtet (vgl. Bosch 2005, 106-107). Solche Konditionierungsprozesse und das Lernen am Modell7, zwei Theorien des Behaviorismus8, beziehen sich auf intrapsychische Aspekte und sind somit personenbezogen (vgl. Palmowski 2010, 56).
„Das lerntheoretische Modell versteht auch abweichendes Verhalten als erlerntes Verhalten. Es geht davon aus, dass es nach den gleichen Lernprinzipien zustande kommt wie normales Verhalten.“ (Bosch 2005, 107)
Zudem werden ausschließlich die wahrnehmbaren Verhaltensweisen betrachtet und berücksichtigt, nicht aber, welche Wünsche und Empfindungen sich hinter diesen verbergen (vgl. ebd., 111). Dennoch wird hier der Zusammenhang zwischen einem gezeigten Verhalten, seinem auslösenden Reiz und der Konsequenzen aufgezeigt. Dementsprechend wird der aktuelle Kontext betrachtet. Die Veränderung des Einzelnen, bzw. dessen Verhaltensweisen steht im Vordergrund, was durch die Veränderung des Kontexts angestrebt wird. Die Erklärung des Verhaltens erfolgt somit personenbezogen, die Veränderung dessen soll aber durch die Einwirkung auf den Kontext erreicht werden (vgl. Palmowski 2010, 56).
2.1.4 Kritische Anmerkungen
Es gibt zahlreiche personenbezogene Konzepte, nicht alle können innerhalb dieser Arbeit erfasst werden. Die von uns aufgezeigten Ansätze verdeutlichen allerdings, dass innerhalb dieser die Annahme herrscht, dass der Mensch so ist, wie er ist und es kaum möglich ist, sein Verhalten zu ändern. Demnach ist Verhalten also etwas Statisches (vgl. ebd., 53), Erklärungen für Verhaltensmuster werden in den vorgestellten Modellen anhand von Kausalzusammenhängen gesucht:
„Das gemeinsame der personenbezogenen Konzepte ist es, dass sie die Ursachen oder Auslöser für ein bestimmtes Verhalten ausschließlich oder zumindest schwerpunktmäßig in der betreffenden Person lokalisieren.“ (Palmowski 2012, 161)
Auch: Beobachtungslernen, Nachahmungslernen, Modelllernen: man geht davon aus, dass „Verhaltensformen, die bei anderen Personen gesehen werden, in das eigene Verhalten übernommen [werden]“ (Schröder 2002, 24).
Für Menschen, die als „geistig behindert“ beschrieben werden, bedeutet dies, dass anhand dieser Modelle Verhaltensweisen, die von der Norm abweichen, als Folge der Behinderung gesehen werden. Die individuumsbezogenen, defizitorientierten Sichtweisen betrachten den Menschen als krankes bzw. mangelhaftes Wesen mit körperlich-organischen und psychischen Schädigungen, wobei die ihm zugeschriebene „geistige Behinderung“ als Folge hirnorganischer oder weiterer Schädigungen gesehen wird. Art und Ausmaß der „Behinderung“ (z.B. Intelligenzdefekte, Entwicklungsverzögerungen, eingeschränktes Lernverhalten) hängen dabei linear kausal mit der „vorliegenden Schädigung“ zusammen. Nicht zuletzt reduzieren Begriffe wie „Störung“, „Schädigung“, „Defizit“ den Menschen auf seine „vorhandenen“ Schwächen und erschwert es seiner Umwelt, ihn mit seinen vielfältigen Kompetenzen und persönlichen Stärken in den Blick zu nehmen (vgl. Fischer 2008, 32-33). Für den Menschen, der als „geistig behindert“ beschrieben wird, ist es dementsprechend umso beschwerlicher, sich „von innen und eigentätig zu entwickeln“ (ebd., 32). Die Betonung der Defizite konstruiert folglich eine Andersartigkeit der „Betroffenen“ und erschwert somit „die Suche nach sozialen Gemeinsamkeiten“ (ebd., 32). Personenbezogene Sichtweisen zielen darauf ab, die Persönlichkeit oder deren innere Mechanismen (das Verhalten) zu verändern:
„Die pädagogische Schlussfolgerung dieses Modells lautet, dass die Aufgabe der Erzieher [oder des Pädagogen] darin bestehen muss, zu versuchen, ein Kind oder Jugendlichen [oder Erwachsenen] gezielt zu verändern, durch die Behebung der in ihm liegendem Ursachen für auffälliges und unerwünschtes Verhalten. Wenn die Ursache im Menschen angenommen wird, kann man sie auch nur dort beheben.“ (Palmowski 2010, 47)
Dennoch ist man sich über die Schwierigkeit bewusst, jemanden zu verändern. Pädagogische Maßnahmen scheinen von vornherein als wenig sinnvoll, denn „[w]enn ein Muster vererbt ist und sozusagen „zur Natur“ dieses Menschen gehört, dann wird es sich durch pädagogische Bemühungen kaum weitreichend verändern oder auflösen lassen“ (Palmowski 2010, 60). Somit erweisen sich personenbezogene Sichtweisen als kaum nützlich und hilfreich, zumal der Kontext innerhalb von Erklärungen für „problematisches“ Verhalten nicht beachtet wird, was Handlungsmöglichkeiten reduziert. Zwar wird häufig, vor allem in der pädagogischen Praxis, mit der Veränderung des Kontexts gearbeitet, begründet wird das Handeln aber mit dem „Wissen“ über personenbezogene Modelle (vgl. ebd., 60-61) (z.B. „Uwe wird innerhalb des Wohnheims in eine kleinere Gruppe versetzt, weil er aufgrund seiner Doppeldiagnose oftmals aggressiv ist“). Wir sind daher der Meinung, dass die vorgestellten personenbezogenen und defizitorientierten Ansätze, obwohl noch weit verbreitet, nicht nützlich für die pädagogische Praxis sind.
2.2 Soziologische Sichtweisen
2.2.1 Was bedeutet „soziologisch“?
Die Soziologie versteht sich als die „Wissenschaft vom Zusammenleben der Menschen“: Forschungsgegenstand ist somit „das Zusammenleben und Zusammenhandeln der Menschen sowie die hieraus resultierende soziale Wirklichkeit“ (Cloerkes 2007, 2). Sie beschäftigt sich dahingehend mit den Strukturen und Gesetzmäßigkeiten sozialen Handelns, sozialen Beziehungen sowie der sozialen Gebilde und deren Wandel (vgl.
Markowetz 2008, 239). Für das Verständnis „geistiger Behinderung“ und „problematischen Verhaltens“ aus soziologischer Sicht sollen folgende drei Grundannahmen dienen, die für die weitere Beschreibung wichtig sind: Zum Einen wird der Mensch aus soziologischer Sicht als Person und als soziales Wesen zugleich betrachtet: Er ist auf das Zusammenleben mit anderen Menschen angewiesen und wird davon grundlegend beeinflusst. Weiterhin wird die gesellschaftliche Umwelt des Menschen als materielle Welt, die mit allen Sinnen wahrnehmbar ist und zugleich als kulturelle Welt, d.h. als „geistiges und soziales Produkt des Zusammenlebens“ (Cloerkes 2007, 2) beschrieben. Diese soziale Wirklichkeit, d.h. die Umwelt und damit auch die Person, so die letzte Annahme, unterliegen dynamischen Veränderung und sind nicht statisch.
Auf diesen von Cloerkes (2007) als Grundannahmen bezeichneten soziologischen Aussagen, sollen sich die folgenden Ausführungen stützen und damit einen Einblick in das gewähren, was wir als „geistige Behinderung bzw. problematisches Verhalten aus soziologischer Sicht“ verstehen.
2.2.2 „Geistige Behinderung“ aus soziologischer Sicht
Folglich der o.g. soziologischen Grundannahmen geht es innerhalb soziologischer Sichtweisen zum Phänomen „geistige Behinderung“ um die „ gesamte Lebensrealität, von Menschen, denen ein derartiges Attribut zugeschrieben wurde“ (Cloerkes 2007, 3). Dabei soll diese Lebenswirklichkeit nicht nur beschrieben, sondern auch kritisch bewertet werden. Wichtig bei der Beschreibung von „(geistiger) Behinderung“ für den Soziologen sind demnach die sozialen Folgen von Behinderung:
„Eine Behinderung ist eine dauerhafte und sichtbare Abweichung im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich, der allgemein ein entschieden negativer Wert zugeschrieben wird. „Dauerhaftigkeit“ unterscheidet Behinderung von Krankheit. „Sichtbarkeit ist im weitesten Sinne das „Wissen anderer Menschen um die Abweichung. Ein Mensch ist „behindert“, wenn erstens eine unerwünschte Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen vorliegt und wenn zweitens deshalb die soziale Reaktion auf ihn negativ ist.“ (ebd., 8; Hervorhebungen durch die Autorinnen)
Aus diesen Definitionen lässt sich ableiten, dass für den Soziologen ein Mensch als „behindert“ beschrieben wird, „wenn er in unerwünschter Weise anders ist, von definierten Erwartungen abweicht und deshalb die soziale Reaktion auf ihn negativ ist“ (Markowetz 2008, 240). Behinderung wird damit zu einem Ergebnis eines „sozialen Abwertungsprozesses, das die sozialen Teilhabechancen behinderter Menschen negativ beeinflusst“ (ebd., 240). Entscheidend in diesem Ansatz ist nicht der Mensch „mit seiner Schädigung oder seinen Defiziten“, sondern die negativ bewertete Abweichung von sozialen Erwartungen. Diese Erwartungen sind jedoch sehr vielfältig und es existiert keine klare Definition über das, was als Erwartung oder als Norm gilt. Somit wird „Behinderung“ aus soziologischer Sicht nicht als etwas Absolutes (wie in den meisten personenbezogenen Sichtweisen) beschrieben, sondern als etwas Relatives:
1. Relativ hinsichtlich der zeitlichen Dimension: Ein Mensch kann bspw. zeitlich begrenzt während der Schulzeit als „behindert“ beschrieben werden, wenn er nicht so schnell mitkommt wie andere, nur sehr langsam rechnen, lesen oder schreiben kann usw. Nach dem stark personenbezogenen Beschreibungsmodell ICD-10 würde man diesem dann eine sog. „Lernbehinderung“ (mit entsprechender Klassifikation) zuschreiben (vgl. WHO 2012, ICD-10).
2. Relativ hinsichtlich der subjektiven Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Behinderung“: Der für den einen als „leichte Schädigung“ beschriebener Verlust des kleinen Fingers, kann für den Klavierspieler als katastrophal erlebt werden.
3. Relativ hinsichtlich verschiedener Lebensbereiche und Lebenssituationen: Ein Mensch, der als „geistig behindert“ beschrieben wird, erlebt sich selbst vermutlich gar nicht so sehr als „behindert“ (zahlreiche Beispiele dazu lassen sich u.a. in Palmowski/Heuwinkel 2002; Sorge 2009; Sorge 2011 finden) bzw. nur in bestimmten Situationen, z.B. wenn Menschen in einer Gruppe miteinander sprechen und die gehörlose Frau es nicht verstehen kann.9 In anderen Situationen, z.B. wenn sie sich mit Anderen mit Hilfe von Gebärden, Zeichen o.ä. unterhalten kann, erlebt sie dies wahrscheinlich nicht so.
4. Relativ hinsichtlich (kulturspezifischen) sozialen Reaktionen: In einer Kultur wird z.B. Wachstumsschwäche als Störung der körperlichen Entwicklung negativ bewertet, wobei sie in einer anderen Kultur als Verlängerung der Kindheitsphase gewertet wird bzw. die Bedeutung ohnehin ambivalent bleibt, weil derjenige zwar noch wie ein Kind aussieht, jedoch wie ein Erwachsener spricht (Trommsdorff 1987, 29).
Hieraus wird ersichtlich, dass „geistige Behinderung“ immer in Abhängigkeit zu dem steht, welche Anforderungen die Umwelt stellt: „Werden die Anforderungen geändert,
ändert sich auch der Status der Klassifizierten“ (Holtz 1994, 52). Dennoch ist, aus
soziologischer Sicht, „Behinderung“ stets „abweichendes“ Verhalten und wird als Stigma
aufgefasst, womit „Behinderung“ als ein empirisch erfassbares „soziales Problem“
definierbar wird (vgl. Markowetz 2008, 240; Cloerkes 2007, 17-37). Ein „soziales
Problem“ bezeichnet dabei eine „Vielzahl unterschiedlicher gesellschaftlicher
Erscheinungen, denen immer eine Diskrepanz zwischen sozialen Standards oder Wertvorstellungen und der Realit ä t bzw. den tats ä chlichen Abl ä ufen zugrunde liegt“ (Cloerkes 2007, 18). Somit bezieht sich diese Definition auf gesellschaftliche Verhältnisse und ist damit, wie auch das Phänomen „Behinderung“ relativ: Unterschiede z.B. hinsichtlich verschiedener Kulturen, unterliegen ständigem sozialem Wandel. In der deutschen Kultur würde man, nach Cloerkes (2007) „alten“ sozialen Probleme bspw. Armut, Alkoholismus und Obdachlosigkeit zuordnen; „neuen“ sozialen Problemen vermutlich solche wie Drogenkonsum, Gewalt im Sport usw. Soziale Probleme werden demnach definiert (in unserer Gesellschaft v.a. von politischen Gruppierungen und Parteien, Literatur und Journalismus sowie Wissenschaft und Forschung). Somit werden soziale Probleme und d.h. auch „die Behinderung“ erst geschaffen (vgl. ebd., 18-19) durch diejenigen, die festlegen, was soziale Probleme bzw. „Behinderung“ ist.
2.2.3 „Problematisches Verhalten“ aus soziologischer Sicht
Zur sozialwissenschaftlichen Sicht
Unter anderem aus der Kritik am psychiatrischen Modell hat sich diese alternative Sichtweise entwickelt. Die sozialwissenschaftliche Sicht betrachtet den sozialen Faktor und macht auf psychosoziale Risikofaktoren aufmerksam (vgl. Theunissen 2005, 56).
„In soziologischen Theorien wird das Verhalten einzelner Menschen oder Menschengruppen in erster Linie erklärt durch gesamtgesellschaftliche Strukturen und Prozesse, in die die jeweiligen Personen eingebunden sind. Als idealtypische Vorstellung für ein dementsprechendes Handlungskonzept könnte man sich eine Gesellschaft vorstellen, die sich konsequent so organisiert, dass die einzelnen Mitglieder dieser Gesellschaft sich innerhalb der vorgegebenen Strukturen so entwickeln müssen, wie es den Zielen dieser Gesellschaft entspricht. Das Ergebnis etwa einer sozialistischen Gesellschaft wäre dann die einzelne sozialistische Persönlichkeit. Wir wissen aus der Geschichte und unserer eigenen Erfahrungen, dass derart lineare Sichtweisen in der Umsetzung nur sehr begrenzt greifen. Allerdings wird das Erklärungsmodell als Grundidee dadurch nicht in Frage gestellt.“ (Palmowski 2010, 63)
Innerhalb der sozialwissenschaftlichen Sicht „sind Verhaltensstörungen als von gesellschaftlichen Normen abweichendes Verhalten zu interpretieren, das nicht zuerst durch unterpersonale Strukturen und Prozesse ursächlich bestimmt ist, sondern durch soziale Interaktionsprozesse und gesellschaftliche Bedingungen hervorgerufen wird“ (Benkmann 1989, 90 In: Palmowski 2012, 163). Im folgenden Abschnitt sollen einige Modelle der Soziologischen Sichtweise näher betrachtet und anschließend kritisch reflektiert werden. Zunächst wird dabei noch einmal näher auf das soziologische Modell an sich und dessen Annahmen über die Ursachen normabweichenden Verhaltens eingegangen.
Das soziologische Modell
Das soziologische Modell besagt, dass unser Verhalten immer abhängig ist vom gesellschaftlichen Rahmen, in dem wir uns gerade befinden. Dazu ein Beispiel: Wir können uns mit Menschen verabreden, von denen wir wissen, dass sie uns und unseren Humor mögen. Folglich werden wir unter diesen aufleben, werden Späße machen. Treffen wir jedoch auf Personen, die unseren Humor nicht teilen, werden wir uns wohl eher zurückhalten, auch wenn wir die gleiche Tagesform haben. D.h., wir lassen uns häufig von den vorherrschenden Normen der gesellschaftlichen Umgebung beeinflussen und verhalten uns so, wie es von uns erwartet wird, da wir von unseren Mitmenschen anerkannt werden wollen. In unterschiedlichen Gesellschaften, Milieus, vor allem aber in unterschiedlichen Kulturen, wird unterschiedliches Verhalten erwartet. Somit kann innerhalb einer Kultur eine Verhaltensweise als „normal“ erachtet, innerhalb einer anderen die selbige aber als „auffallend“ gelten: Man denke nur an das in der westlichen Welt oftmals als Provokation aufgefasste lautstarke Aufstoßen („Rülpsen“) am Tisch, das in einigen östlichen Ländern dagegen als natürliche Geräuschkulisse beim Essen betrachtet und somit nicht verpönt wird. Verhaltensnormen variieren nicht nur zwischen den Kulturen, sondern auch zwischen zeitlichen Epochen (so war es den Rittern noch „gestattet“, am Tisch aufzustoßen). Problematisches Verhalten wird somit innerhalb des soziologischen Modells als ein Produkt des auf Normen basierenden gesellschaftlichen Systems betrachtet. Meist wird der Durchschnitt oder die Mehrheit der Gesellschaft als Maßstab dafür herangezogen, um zu entscheiden, wann ein Verhalten noch „normal“ und wann „abweichend“ ist. Individuelle Unterschiede haben innerhalb dieses Modells somit kaum Raum. Dies hat Stigmatisierung zur Folge, denn wer den Erwartungen der Gesellschaft nicht entspricht, fällt aus dem Rahmen (vgl. Bosch 2005, 97-99). Dies gilt nach Bosch (2005) insbesondere auch für Menschen, die als „geistig behindert“ beschrieben werden:
„Die Gesellschaft stigmatisiert. Man bekommt ein Etikett, auf dem steht: geistig behindert. In erster Linie versucht die Gesellschaft auf den Betroffenen Druck auszuüben, ihn zu korrigieren, damit er dem Durchschnitt wieder gerecht wird“ (ebd., 99).
Sozialisationstheoretischer-sozialpsychologischer Ansatz
Die Theorie des sozialisationstheoretischen-sozialpsychologischen Ansatzes besagt, dass Verhaltensauffälligkeiten (von Menschen, die als „geistig behindert“ beschrieben werden), Folge familiärer Interaktionsstörungen seien, die aus Erziehungsdefiziten, negativen Bindungserfahrungen oder mangelhaften Sozialisationserfahrungen resultieren. Bspw. „primäre Ablehnung und Feindseligkeit, […] langfristig bestehende und enge Abhängigkeitsverhältnisse, unzureichende Kommunikation, […] [oder] gesellschaftliche Diskriminierung und familialer Rückzug, […]“ (Theunissen 2005, 56) stellen Risiken für die kindliche Identitätsentwicklung dar, die v.a. „im Zusammenhang mit einer leichten geistigen Behinderung bzw. einer „Lernbehinderung“ eine prominente Rolle [spielen]“ (ebd., 56). Kurz gesagt: aus ungünstigen Bedingungen in der Kindheit kann sich problematisches Verhalten entwickeln (vgl. ebd., 56).
Soziologisch-systemkritische Forschung
Die soziogisch-systemkritische Forschung stellte zudem heraus, dass durch institutionelle Missstände (z.B. Hospitalisierung) Verhaltensauffälligkeiten auftreten können, v.a. infolge von autonomiebeschränkenden Lebensbedingungen, aus denen sich unzureichende Selbstbestimmung und Kompetenzverlust ergeben (vgl. ebd., 56). Jervis (1978) sagt dazu:
„Der Patient (oder behinderte Mensch [Anm. Theunissen, 2005] ) verschließt sich langsam immer mehr in sich selbst, wird energielos, abhängig, gleichgültig, träge, schmutzig, oft widerspenstig, regrediert auf infantile Verhaltensweisen, entwik-kelt starre Haltungen und sonderbare stereotype Tics, passt sich seiner extrem beschränkten und armseligen Lebensroutine an, aus der er nicht einmal ausbrechen möchte und baut sich oft als eine Art Tröstung Wahnvorstellungen auf.“ (Jervis 1978. 131 In: ebd., 56) Somit gäbe es also eine Vielzahl kritischer institutioneller Situationsfaktoren, die problematisches Verhalten auslösen können.
Labeling-Approach-Theorie
Ausgangsfrage der Labeling-Approach-Theorie ist, warum es nur wenige Menschen gibt, die nahezu ihr ganzes Leben lang abgleiten, also etwa kriminell oder psychiatrisch auffällig werden, die Mehrheit aber nicht, obwohl vermutlich jeder einmal Gesetzesverstöße begeht oder psychiatrische Symptome aufzeigt. Das Modell begründet dies damit, dass zunächst eine bestimmte Verhaltensweise beobachtet und anschließend mit einem Fachbegriff, dem „label“, bezeichnet wird (vgl. Palmowski 2010, 65). Einem auffälligen Muster wird also ein Etikett zugeschrieben. Beispiele dafür sind:
- „ein Kind lernt langsamer als die anderen Kinder und erhält dafür das Etikett „lernbehindert“
- ein anderes Kind ist lebhafter und weniger konzentriert auf schulische Inhalte und erhält dafür das Etikett „ADHS“ oder eine andere ähnliche Bezeichnung
- aktuell haben Zuschreibungen wie „Dyskalkulie“, „Legastenie“ oder andere
„Teilleistungsschwächen“ Konjunktur für Kinder, bei denen man die entsprechenden Leistungen wahrnimmt“ (ebd., 65)
Anhänger der Theorie sind der Meinung, dass eine langfristige Verhaltensabweichung überhaupt erst aus der Etikettierung resultiert. Würden Menschen nicht entsprechende Etikettierungen zugeschrieben werden, hätten sie folglich keinen Grund, langfristig auffälliges Verhalten zu zeigen (vgl. ebd., 65). Somit gilt: „ein Kind, dem Experten bescheinigt haben, es sei lernbehindert (und dass es keinerlei Chancen besitzt, sich erfolgreich gegen ein solches Etikett zur Wehr zu setzen), kann nicht erfolgreich lernen“ (ebd., 65).
Die Anomietheorie sagt aus, dass unerwünschtes, aber auch erwünschtes Verhalten Ergebnisse der Sozialstruktur sind und untersucht dabei die Frage: Warum entwickeln manche Menschen aufgrund einiger sozialstruktureller Gegebenheiten abweichende Verhaltensmuster? Merton (1968) gibt darauf folgende Antwort:
„Die Kultur stellt also an die Angehörigen der unteren Schichten miteinander unvereinbare Anforderungen. Einerseits wird von ihnen erwartet, dass nach Wohlstand streben, andererseits sind ihnen institutionell weitgehend die die hierzu geeigneten Wege versperrt. Aus dieser strukturellen Inkonsistenz ergibt sich eine hohe Rate abweichenden Verhaltens.“ (Merton 1968, 297, In: ebd., 63-64)
Demnach verlangt die Gesellschaft, in der man sich befindet, über Statussymbole zu verfügen. Diese können „Angehörige der unteren Schichten“ jedoch oft nicht auf legale Weise erhalten. Aus diesem Dilemma ergeben sich zwei Handlungsmöglichkeiten:
1. Man verzichtet auf Statussymbole, hat keine juristischen Konsequenzen zu befürchten, bleibt aber in der „unteren Schicht“ oder
2. man beschafft sich Statussymbole, hat aber juristische Konsequenzen zu erwarten. Anhand dessen zeigt sich einmal deutlicher, worin das Wesen soziologischer Theorien besteht, nämlich dass das Verhalten zwar soziologisch begründet wird, die Handlungskonzepte dagegen personenbezogen sind:
„Einerseits formuliert man die Erklärung des Verhaltens in seiner Verursachung durch gesellschaftliche Muster (für die der einzelne nicht verantwortlich gemacht werden kann), andererseits macht man allerdings den Einzelnen für sein jeweiliges Verhalten als Person verantwortlich und zwingt ihn, die Konsequenzen seines Verhaltens zu tragen.“ (ebd., 64)
Dementsprechend hat auch nur der Einzelne mit Konsequenzen (z.B. Haftstrafe,
Einweisung in eine Psychiatrie) zu rechnen, nicht aber die Gesellschaft. Daraus ergibt sich ein Widerspruch zwischen dem Erklärungsmodell und dem Handlungsansatz (vgl. ebd., 63-64), denn: „[e]in Handlungskonzept, welches dem Erklärungsmodell entspräche, bestünde darin, die Gesellschaft (durch politisches Engagement) so zu verändern, dass problematische Bereiche eliminiert würden.“ (ebd., 64)
2.2.4 Kritische Anmerkungen
Sozialwissenschaftliche Ansätze berücksichtigen zwar die soziale Perspektive für die Erklärung „problematischen Verhaltens“, jedoch gilt der Einzelne als verantwortlich für sein Verhalten und Handeln. Handlungsansätze sind somit personenbezogen, man versucht, den einzelnen Menschen bzw. dessen Verhalten zu ändern, jedoch nicht die Gesellschaft. Daraus ergibt sich, wie auch bei vorgestellten personenbezogenen Sichtweisen, eine „Paradoxie, eine Inkompatibilität zwischen dem Erklärungsmodell und dem Handlungsansatz“ (ebd., 64). Kritisch betrachtet werden muss außerdem der in den Theorien enthaltene Determinismus, also, dass bestimmte Ereignisse bestimmte Konsequenzen haben:
„Ein geistig behinderter Mensch ist kein passives Produkt (Opfer) defizitärer Sozialisationsbedingungen. Er ist auch nicht dem Prozess des Auffälligwerdens hilflos ausgeliefert. Ob es zu Verhaltensauffälligkeiten kommt, hängt davon ab, wie der Einzelne die jeweilige Situation oder Anforderung wahrnimmt, bewertet und bewältigt. Insofern ist es falsch anzunehmen, dass alle Menschen, die sich unter kritischen Lebensbedingungen (sei es familiär oder institutionell) zurechtfinden müssen, Verhaltensauffälligkeiten entwickeln, die eine schwer beschädigte Identität vermuten lassen. So hat zum Beispiel die Resilienzforschung (Garmezy 1991) den Nachweis erbracht, dass es Menschen gibt, die trotz erheblicher Belastungen in ihrer frühen Kindheit oder Sozialisation keine Dissozialität oder (schweren) psychische Störungen entwickeln.“ (Theunissen 2005, 57-58).
„Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben“, postuliert dahingehend Ben Furman (2008), der in seinem Buch eindrucksvoll Erfahrungen von Menschen zusammenstellt, die eine problematische Kindheit hatten und sie dahingehend befragt, was ihnen geholfen hat, die schwierigen Kindheitserlebnisse zu bewältigen, was sie aus ihrer Kindheit gelernt haben und wie sie die Erfahrungen, die ihnen in der Kindheit fehlten, später „aufgeholt“ haben. Er stellt heraus:
„Viele ausgeglichene, gesunde Menschen scheinen eine schwere Kindheit gehabt zu haben, wobei andere, die unter vielen Problemen leiden, möglicherweise als Kind relativ glücklich waren. Es gibt selbstverständlich Erwachsene mit einer schweren Kindheit, die Probleme haben, aber auch in diesen Fällen ist es nicht sicher, dass sie sich eindeutig aus den Kindheitserlebnissen ableiten lassen.“ (Furman 2008, 13)
Die dritte Problematik soziologischer Erklärungsansätze besteht darin, dass bestimmte Verhaltensmuster als von der Norm abweichend („unnormal“) beschrieben werden, was zur Folge hat, dass man die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft ebenso in „normal“ und „nicht normal“ unterteilen kann. Die „Nicht-Normalen“ haben es dementsprechend schwer innerhalb der Gesellschaft. Ihr Leben ist gekennzeichnet durch Stigmatisierung, Ausgrenzung und Therapien. Innerhalb letzterer würde man vermutlich versuchen, den Menschen, der die „Störung“ hat, wieder „gesellschaftsfähig“ zu machen:
„Aus dieser Perspektive erscheint demnach das konkrete Verhalten eines Menschen im Wesentlichen als Ergebnis der poli-ökonomischen Bedingungen oder gesamtgesellschaftlichen Strukturen, mit denen - etwa durch Ausgrenzungs- und Etikettierungsprozesse - Randgruppen erzeugt werden, deren Verhalten dann als gestört beschrieben werden kann.“ (Palmowski 2012, 163)
Personenbezogene und soziologische Konzepte sind, unserer Meinung nach, äußert kritisch zu betrachten. Die Erklärungen bzw. Handlungskonzepte, die sich aus ihnen ergeben, erachten wir als unzureichend, da wesentliche Faktoren außen vor gelassen werden. Aus diesem Grund soll im Punkt 2.3 eine uns nützlicher erscheinende Alternative vorgestellt werden, die den in der Thesenauswertung zu bearbeitenden Themen als Grundlage dienen soll: die systemisch-konstruktivistische Sichtweise. Jedoch soll hierbei angemerkt werden, dass, (und sei eine Theorie aus unserer Sicht noch so unzureichend oder unglaubwürdig) es unsinnig ist, die vorliegenden Theorien und Erklärungsmuster hinsichtlich ihrem Wahrheitsgehalt zu untersuchen, d.h. auszuwerten, welche Theorie stimmt und welche nicht - denn keine der Erklärungen kann bewiesen bzw. widerlegt werden: „Der Wahrheitsgehalt von Theorien lässt sich nicht ermitteln“ (Palmowski 2010, 43), selbst wenn Einigkeit hinsichtlich der Beurteilung verschiedener Theorien herrschen würde: „Einstimmigkeit und Konsens [können] keine Kriterien für Wahrheit sein […]“ (Palmowski 2012, 166). Besser ist es demnach, zu überlegen, welche Theorie für das (pädagogische) Handeln am nützlichsten sein kann. Entscheide ich mich bspw. (vielleicht sogar mehr oder weniger unbewusst) dafür, daran zu glauben, dass Tom aggressives Verhalten zeigt, aufgrund negativer Erfahrungen in der Kindheit (psychoanalytisches Denken), so werde ich mich eher mit Fragen hinsichtlich seines Elternhauses, seiner sog.
Sozialisationsbedingungen usw. beschäftigen (müssen). Diese wären für mich weniger relevant, wenn ich mich entscheide, der Kindheit keinen Einfluss auf das derzeitige Verhalten zuzuschreiben. Die Befürwortung einer Annahme (hier bspw. der Psychoanalyse) hat demnach weitreichende Konsequenzen auf unser (pädagogisches) Handeln, da hierbei ganz andere Überzeugungen und damit Grundlagen im Vordergrund stehen als bei anderen Theorien. Dies schließt wiederum ein, dass sich, wenn wir uns für eine andere theoretische Grundlage entscheiden, sich andere Handlungsmöglichkeiten eröffnen, was im Folgenden durch die Darstellung systemisch-konstruktivistischer Sichtweisen deutlich werden soll.
2.3 Systemisch-konstruktivistische Sichtweisen
2.3.1 Was bedeutet „systemisch“?
„In meinem Verständnis bedeutet systemisch Denken und Handeln die Entwicklung und die Praxis einer entsprechenden Haltung, die sich aus systemischen und konstruktivistischen Sichtweisen her ableiten und begründen lässt.“ (Palmowski 2010, 10)
In diesem Abschnitt soll genau diese Haltung, die wir, als Autorinnen der vorliegenden Ausführungen, zur Grundlage für unsere pädagogische Arbeit machen möchten, vorgestellt werden. Palmowski (2010) verweist hierbei darauf, dass sich systemisches Denken und Handeln aus einer Haltung heraus ableiten lässt, die sich nicht schlichtweg an Techniken ablesen lässt. Systemisch Denken und Handeln bedeutet demnach nicht, systemische Techniken anzuwenden und umgekehrt bedeutet systemische Techniken anzuwenden, nicht gleichsam, auch über die entsprechende Haltung zu verfügen: Eine (systemische) pädagogische Haltung gehört dazu, um (systemische) Techniken erst wirksam werden zu lassen. Diese Haltung vorzustellen und „verstehbar“ zu machen, ist Anliegen der folgenden Ausführungen.
Die Grundannahme systemischen Denkens lautet: Der Mensch ist nicht immer gleich, sondern zeigt in einem Netz von Beziehungen sehr unterschiedliches Verhalten (vgl. Renoldner, Scala, Rabenstein 2007, 10). D.h. das Verhalten einzelner Menschen kann immer erklärt werden durch den jeweiligen Kontext, in dem das Verhalten gezeigt wird. Demgegenüber suggerieren Symptomkataloge und Klassifikationen, man könne Verhalten immer eindeutig zuordnen zu „normal“, „abweichend“, „problematisch“ o.ä. Jedoch vernachlässigen diese Klassifikationen den Kontext, in welchem Verhalten gezeigt wird (vgl. Palmowski 2011, 33). Betrachtet man einen Profi-Fußballspieler, der a) dem Ball nachjagt und diesen nicht aus den Augen lässt, b) Gegner beschimpft oder Freudenschreie bei einem Tor ausstößt, c) aufgrund seiner Angespanntheit und Nervosität keine klaren Worte finden kann und sich d) über einige Aussagen des Kommentators über sich und sein Spielverhalten beschwert, sollte man ihn, ohne Beachtung des Kontextes (Fußballspiel) und der beteiligten Personen (Gegner, Kommentator), laut ICD-10 womöglich auf eine „vorliegende Schizophrenie“ hin prüfen, da er eindeutige Symptome dahingehend aufweist: a) Kontrollwahn, b) Gedankenlautwerden und Gedankeneingebung, c) Denkstörungen und d) Stimmen, die ihn in der dritten Person kommentieren oder über ihn sprechen (vgl. WHO 2012, ICD-10). Symptomkataloge und Klassifikationen vernachlässigen demnach immer den Kontext, in welchem Verhalten gezeigt wird: Herzhaftes Lachen auf einer Karnevalsfeier kann durchaus als „normal“ beschrieben werden, herzhaftes Lachen auf einer Beerdigung hingegen womöglich als Störung (vgl. Palmowski 2011, 33). Somit kann jede Verhaltensweise immer dann als Störung beschrieben werden, wenn sie in einem Kontext gezeigt wird, in dem sie, nach Bewertung des Beobachters, nicht hineinpasst und „umgekehrt kann jede Verhaltensweise als sinnvoll und nützlich erlebt werden, wenn es dem Beobachter gelingt, ihre (vernünftige) Bedeutung, ihre Funktionalität für den jeweiligen Kontext zu erkennen“ (ebd., 33). Jeder Kontext ist diesbezüglich geprägt durch Spielregeln, an denen sich das Verhalten ausrichtet (oder eben nicht), was durch folgendes Beispiel deutlich werden soll:
„[...] Aber wenn ich wütend bin, zum Beispiel über einen Erzieher von der Gruppe, und ich telefoniere dann mit dem und schreie ihn an, dann bin ich doch wütend, das steckt doch dann in mir drin... Ich fragte ihn, ob er, wenn er auf den Heim- oder den Schulleiter genauso wütend wäre und er würde mit denen telefonieren, ob er sie genauso anschreien würde wie den Erzieher? Er: ‚Nein, natürlich nicht!’“ (Palmowski 2007, 61)
Der Lehrer oder Mitarbeiter aus dem Beispiel reagiert also, je nachdem mit wem er spricht, in welchem Kontext er sich befindet, wie die Beziehungen sich innerhalb dieses Kontextes gestalten und demnach, welche Spielregeln (implizit) vereinbart wurden. Die Person aus dem Beispiel kennt (zumindest implizit) diese Spielregeln und verhält sich dementsprechend. Explizit werden die Spielregeln oftmals erst deutlich, wenn diese (zum Beispiel durch das, was als „problematisches Verhalten“ beschrieben wird) gebrochen werden.
Aus dieser Sichtweise heraus wird deutlich, dass Verhalten (oder das, was allgemeinhin unter problematischem Verhalten oder Verhaltensauffälligkeiten verstanden wird) immer funktional in dem jeweiligen Kontext ist, in dem es gezeigt wird, was im Folgenden durch einige Präzisierungsversuche des Begriffs „systemisch“ noch genauer verdeutlicht werden soll.
Präzisierungsversuch des Begriffs „systemisch“
Wenn Verhalten, wie oben beschrieben, immer im Bezug zum jeweiligen Kontext, in dem es gezeigt wird, betrachtet werden soll, so ist es dahingehend notwendig, auch diesem einige Ausführungen zu widmen und damit das System an sich zu betrachten. „Ein System besteht aus einer Anzahl von Menschen (Elemente), die unmittelbar oder mittelbar in Kontakt zueinander stehen und die durch ein bestimmtes Regelsystem miteinander verbunden sind (Beziehungen zwischen den Elementen)“ (ebd., 63). Systeme wären demnach bspw. Familien, Schulklassen, die Gruppe im Wohnheim etc. Hierbei ist jedoch keineswegs das System scharf abgegrenzt: „Ein System ist das, was jemand als System beschreibt“ (Renoldner, Scala, Rabenstein 2007, 12). So könnte es bspw. verschiedene Ansichten zum „System“ Familie geben: Man könnte Familie als Vater, Mutter und alle Kinder beschreiben oder aber als Eltern und diejenigen Kinder, die noch bei ihnen leben. Andere könnten Familie beschreiben als das „System“ aus Großeltern, Eltern und Kindern; andere wiederum als „System“ aus Kindern, Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, Tanten, Onkeln usw. (vgl. ebd., 12). Da jede einzelne Person Mitglied in vielen verschiedenen Systemen ist (z.B. Familie, Schulklasse, Sportverein, „Clique“ usw.), besteht zwischen diesen einzelnen Systemen ein Verhältnis zueinander: Sie sind miteinander verschachtelt und beeinflussen sich gegenseitig, was auch bedeutet, dass eine Veränderung eines Teils eines Systems eine Veränderung des Gesamtsystems bewirkt, was wiederum eine Veränderung der Systeme bewirkt, mit denen es verschachtelt ist (vgl. Palmowski 2007, 64). Somit kommt den Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern eines Systems eine entscheidende Bedeutung zu, da genau hier der Fokus liegt, „wenn es um Prozesse des Bewahrens oder der Veränderung geht“ (Palmowski 2010, 70). Innerhalb der vorliegenden Arbeit wird dies anhand zahlreicher Beispiele (vor allem aus den Interviews) noch deutlich gemacht werden.
[...]
1 Entgegen der Begriffswahl im Titel der vorliegenden Arbeit („Menschen mit geistiger Behinderung“) soll dieser Personenkreis im Folgenden als „Menschen, die als „geistig behindert“ beschrieben werden“, bezeichnet werden. Im Laufe unserer Recherche und diesbezüglich vor allem auf Grundlage konstruktivistischer Theorien, haben wir gemerkt, dass dieser Begriff für uns günstiger ist. Eine Begründung ergibt sich aus den Ausführungen zu systemisch-konstruktivistischen Sichtweisen und wird noch einmal im Auswertungsteil der Arbeit (These 1) erfolgen.
2 Französischer Philosoph (1596-1650), Ausspruch: „Cogito ergo sum!“ (dt. „Ich denke, also bin ich!“).
3 Italienischer Philosoph (1224-1274).
4 ICD = International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, aktuelle Ausgabe ICD-10 (2013).
5 DSM = Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders - In der vorliegenden Arbeit nehmen wir Bezug auf die deutsche Ausgabe des DSM-IV. Aktuell liegt jedoch schon eine neue Ausgabe (DSM-V) in englischer Sprache vor, welche im Mai 2013 veröffentlicht wurde.
6 Ehemals: American Association on Mental Retardations (AAMR).
7 Auch: Beobachtungslernen, Nachahmungslernen, Modelllernen: man geht davon aus, dass „Verhaltensformen, die bei anderen Personen gesehen werden, in das eigene Verhalten übernommen [werden]“ (Schröder 2002, 24).
8 Konditionierungsprozesse und Lernen am Modell verdeutlichen, dass man mit seiner eigenen Verhaltensweise und bestimmten Handlungen (z.B. Lob/Strafe) das Verhalten anderer „steuern“ kann (vgl. Bosch 2005, 112).
9 Interessant ist hierbei der Gedanke, wenn man diese Konstellation einmal „andersherum“ betrachtet: Man stelle sich vor, man befinde sich als gut hörender Mensch in einer Gruppe Menschen, die sich ausschließlich mit Hilfe von Gebärden unterhalten. Wer aus dieser Gruppe würde sich dann als „beeinträchtigt“ oder „behindert“ erleben?
- Quote paper
- M.A. Monique Wicklein (Author), Jenny Hofmann (Author), 2013, Problematisches Verhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung aus systemisch-konstruktivistischer Sicht, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/281248