In literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Andorra ist ist oftmals die Rede vom „Selbstbildnis“. In der Tat ist Andris Leidensweg von Bildnissen in mehrfacher Hinsicht geprägt. Die Literaturwissenschaft hat sich in den 50 Jahren seit der Uraufführung ausführlich mit den Selbst- und Fremdbildnissen der Andorraner und Andris auseinandergesetzt, woraus unterschiedliche Einschätzungen resultierten.
Zentral ist aber auch der Opferbegriff, der sich als problematisch herausstellt. Er kann einen breiten Bereich umfassen. Wie der Theologischen Realenzyklopädie zu entnehmen ist, finden sich zunächst semantische Abweichungen in verschiedenen Sprachen. Während beim Wort „opfern“ im Deutschen eher an „Verlust, Verzicht, Aufgeben, Abgeben“ gedacht wird, ist im englischen und im französischen Wort „sacrifice“ das Heilige noch enthalten (lat.: sacer: heilig). Im Deutschen wird dem Wort also eine profanere Bedeutung zugemessen, als im Englischen und Französischen, wo das Transzendente noch deutlich mitschwingt. Der Ursprung des Wortes ist in letzteren beiden Sprachen noch nicht verfälscht. Sie verweisen auf die heiligen Rituale, die mit Opfern einher gehen.
Heute wird der Begriff „Opfer“ vermehrt ohne bewussten Zusammenhang zum Heiligen benutzt. Dabei wird lediglich der profane Tod eines Menschen berücksichtigt, ohne nach einem Sinnbezug zu Höherem zu suchen.
Welchen Opferbegriff Frisch verfolgte, soll eine Untersuchung des von selbigem in Andorra klären. Die bisherigen Untersuchungen haben zumeist nur auf einen undeutlichen Opferbegriff zurückgegriffen, wobei nicht deutlich wurde, ob und inwiefern ein Sinnbezug zu Höherem hergestellt wird.
Nicht immer gelang es, einen sinnvollen Zugang zum Stück zu erschließen. Das ist etwa bei Gerd Alfred Petermanns Aufsatz zu Andorra der Fall, in dem er schlussfolgert, dass das Stück „als Ganzes zum plakativen Weihespiel“ verkommt. Dieses fatale Fazit stellt nicht nur den Wert des Stücks in Frage, sondern ebenso den Aussagegehalt vieler weiterer Andorra-Untersuchungen. Ob das Stück tatsächlich unweigerlich „ins Leere stößt“, wird anhand weiterer Lesarten, die den Opferbegriff einbeziehen, überprüft.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Opfersymbole - Ein erster Zugang
- Der Pfahl
- Die Schuhe
- Das sprachliche Opfer
- Opferrollen - Versuch einer Zuordnung
- Barblin - Sündenbock?
- Andri - Tatsächlich ein Opfer?
- Lehrer und Senora - Ein Ausbruch
- Der Raum-Schlüssel zum Opfertext?
- Eine heilige Zeit in Andorra?
- Bühnenraum = Opferraum
- Schlussbemerkungen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Frage, inwiefern die Figuren in Max Frischs Stück „Andorra“ als Opfer zu betrachten sind. Dabei werden die sprachlichen und szenischen Mittel des Dramas auf der Grundlage des Opferbegriffs analysiert und die widersprüchlichen Figureneinschätzungen der Literaturwissenschaft berücksichtigt.
- Analyse von Opfersymbolen im Stück
- Untersuchung der Opferrollen der Hauptfiguren
- Bedeutung des Raumes für die Opferthematik
- Verbindung von Opferstrukturen im Text und auf der Bühne
- Kritik an reduktionistischen Interpretationen des Stücks
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel führt in die Thematik ein und beleuchtet den ambivalenten Opferbegriff, der sowohl profane als auch transzendente Bedeutungen umfasst. Die Analyse der Opfersymbole im Stück, wie z.B. dem Pfahl, zeigt bereits im ersten Kapitel die Verbindung von verbaler und non-verbaler Ebene und weist auf eine transzendente Dimension hin, die über die Ebene des Textes hinaus auf die Bühnenrealität übergreift. Im zweiten Kapitel wird die Frage untersucht, welche Figuren in dem Stück Opferrollen einnehmen. Anhand der Figuren Barblin, Andri und Lehrer/Senora werden die verschiedenen Aspekte des Opferbegriffs beleuchtet. Das dritte Kapitel widmet sich der Bedeutung des Raumes für die Opferthematik. Hierbei wird die Frage diskutiert, ob eine „heilige Zeit“ in Andorra existiert und wie der Bühnenraum als „Opferraum“ fungiert. Die Schlussbemerkungen fassen die gewonnenen Erkenntnisse zusammen.
Schlüsselwörter
Opferbegriff, Symbolismus, Transzendenz, Opferrollen, Raumgestaltung, Andorra, Max Frisch, Figurenanalyse, Selbstbildnis, Fremdbildnis, Bühnenrealität, Theateranalyse, Weihespiel
- Quote paper
- Christian Schartz (Author), 2012, Opferstrukturen in Max Frischs "Andorra", Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/195693