Welche Personen bezeichnen wir in unserer Gesellschaft als „Behinderte“?
Sind es Menschen mit unveränderbaren Defiziten, Menschen, die den Leistungsanforderungen in Schule oder Beruf nicht gewachsen sind oder Menschen, die in unserer von Nichtbehinderten dominierten Gesellschaft isoliert und entmachtet werden? Und wodurch sind diese Menschen behindert, durch ihren Körper, die gesellschaftlichen Anforderungen oder andere soziale und politische Barrieren? Fragen wie diese machen die Komplexität des Behinderungsbegriffes deutlich. Sie ist nicht nur ein Problem des Alltagsverständnisses von Behinderung, auch die verschiedenen heil- und sonderpädagogischen Erklärungsansätze gehen von unterschiedlichen Begriffsverständnissen aus. Dies werde ich anhand von drei Ansätzen darstellen. Aus der Vielzahl von theoretischen Modellen habe ich mich für die Darstellung des medizinischen, ökologischen und materialistischen Ansatzes entschieden, da bei diesen die Entwicklung des Begriffes in den letzten Jahrzehnten deutlich wird: von einem medizinischen und defektorientierten Verständnis zur Betrachtung von Behinderung in ihrer sozialen Konstruktion. Diese Entwicklung hat natürlich Auswirkungen auf die Vorstellung von sonderpädagogischem Handeln, die Profession der Sonderpädagogik, was ich anschließend im ersten Teil meiner Arbeit darstellen werde. Im Alltag der Betroffenen hat sich dieses gewandelte Begriffsverständnis allerdings kaum niedergeschlagen – es herrscht noch immer ein Denken vor, dass auf Defektorientierung, Klassifizierung und Institutionalisierung beruht.
Auf der Suche nach den Gründen dafür stieß ich auf die Disability Studies, eine sich in Deutschland neu formierende wissenschaftliche Orientierung. Die interdisziplinär arbeitenden Autoren stellen theorieübergreifend Fragen nach der gesellschaftlichen Konstruktion und Funktion von Behinderung und damit eng zusammenhängenden Kategorien der Heil- und Sonderpädagogik, wie Klassifikation, Entsolidarisierung oder Normativität. Im zweiten Teil meiner Arbeit stelle ich diese Reflexionen dar und untersuche, wie die traditionellen Ansätze mit diesen umgehen.
Hat diese kritische Auseinandersetzung bei den traditionellen Ansätzen vielleicht gefehlt und könnte darin der Grund für die obengenannte unzureichende Widerspiegelung des veränderten Begriffsverständnisses in gesellschaftlichen Praxen liegen?
Inhaltsverzeichnis (Table of Contents)
- 1 Einleitung
- 2 Der Behinderungsbegriff in ausgewählten traditionellen Ansätzen der Heil- und Sonderpädagogik
- 2.1 Allgemeines zum Begriff der Behinderung
- 2.2 Medizinischer Ansatz
- 2.3 Ökologischer Ansatz
- 2.4 Materialistischer Ansatz
- 3 Auswirkungen dieser Begriffsverständnisse auf die Heil- und Sonderpädagogik als Profession
- 3.1 Auswirkungen auf Diagnostik und Förderung
- 3.1.1 Medizinischer Ansatz
- 3.1.2 Ökologischer Ansatz
- 3.1.3 Materialistischer Ansatz
- 3.2 Auswirkungen des gewandelten Begriffsverständnisses
- 3.1 Auswirkungen auf Diagnostik und Förderung
- 4 Aspekte neuerer Konzepte als Beurteilungskriterien für obige Ansätze
- 4.1 Darstellung neuerer Konzepte
- 4.2 Diskussion über den Begriff der Behinderung
- 4.3 Klassifikation
- 4.3.1 Diagnostik
- 4.3.2 Institutionalisierung
- 4.3.3 Zusammenfassung
- 4.4 Entsolidarisierung mit Behinderten
- 4.5 Grundlegende Kategorien der Heil- und Sonderpädagogik
- 4.5.1 Diskrepanz zwischen Disziplin und Profession
- 4.5.2 Prozess der Wissensbildung
- 4.5.3 Normativität
- 4.5.4 Zusammenfassung
- 5 Zusammenfassende Gegenüberstellung und mögliche Auswirkungen auf die Heil- und Sonderpädagogik als Profession
Zielsetzung und Themenschwerpunkte (Objectives and Key Themes)
Die Arbeit analysiert verschiedene Sichtweisen auf den Begriff „Behinderung" und untersucht deren Auswirkungen auf die Heil- und Sonderpädagogik. Ziel ist es, die Entwicklung des Behinderungsbegriffs in der Heil- und Sonderpädagogik zu beleuchten und die Folgen für die Profession in Bezug auf Diagnostik, Förderung und gesellschaftliche Praxis zu diskutieren. Dabei werden die traditionellen Ansätze des medizinischen, ökologischen und materialistischen Verständnisses von Behinderung gegenübergestellt und mit neueren Konzepten der Disability Studies verglichen.
- Entwicklung des Behinderungsbegriffes in der Heil- und Sonderpädagogik
- Auswirkungen unterschiedlicher Begriffsverständnisse auf Diagnostik und Förderung
- Gesellschaftliche Konstruktion und Funktion von Behinderung
- Klassifikation, Institutionalisierung und Entsolidarisierung im Kontext von Behinderung
- Normativität in der Heil- und Sonderpädagogik
Zusammenfassung der Kapitel (Chapter Summaries)
Die Einleitung stellt die Relevanz des Behinderungsbegriffes in der Gesellschaft und in der Heil- und Sonderpädagogik dar, indem sie unterschiedliche Perspektiven und die Komplexität des Themas beleuchtet. Sie führt in die drei traditionellen Ansätze des medizinischen, ökologischen und materialistischen Verständnisses von Behinderung ein, die im zweiten Kapitel ausführlich dargestellt werden.
Kapitel 2 befasst sich mit dem Behinderungsbegriff in ausgewählten traditionellen Ansätzen der Heil- und Sonderpädagogik. Es analysiert die verschiedenen Definitionen des Behinderungsbegriffs im medizinischen, ökologischen und materialistischen Ansatz und zeigt deren Entwicklung im Laufe der Zeit auf. Die Kapitel 3 untersucht die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Begriffsverständnisse auf die Praxis der Heil- und Sonderpädagogik, insbesondere auf die Diagnostik und Förderung von Menschen mit Behinderung. Es stellt die Folgen des gewandelten Begriffsverständnisses für die Profession dar.
Kapitel 4 widmet sich der kritischen Betrachtung der traditionellen Ansätze im Lichte neuerer Konzepte der Disability Studies. Es präsentiert die zentralen Thesen der Disability Studies, die die gesellschaftliche Konstruktion von Behinderung und die damit verbundenen Kategorien der Heil- und Sonderpädagogik, wie Klassifikation, Entsolidarisierung und Normativität, in Frage stellen. Die Kapitel diskutiert die Bedeutung dieser kritischen Perspektive für die Heil- und Sonderpädagogik als Profession.
Schlüsselwörter (Keywords)
Behinderung, Sonderpädagogik, Heilpädagogik, Medizinischer Ansatz, Ökologischer Ansatz, Materialistischer Ansatz, Disability Studies, Klassifikation, Institutionalisierung, Entsolidarisierung, Normativität, Diagnostik, Förderung, gesellschaftliche Konstruktion, soziale Barrieren.
- Quote paper
- Cordula Hansen (Author), 2006, Der Begriff „Behinderung“ – Darstellung unterschiedlicher Sichtweisen und deren Folgen für die Sonderpädagogik als Profession, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/168966