Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, Informationen zum Untersuchungsgegenstand, welche Pflege brauchen Menschen mit Behinderung und die Bedeutung der Pflegekompetenz für die Heilerziehungspflege, zu erfassen. Das Besondere, das Spezifische in der Pflege von Menschen mit Behinderung soll dabei herauskristallisiert werden.
Methode: Experteninterviews im Bereich der Pflege in der Heilerziehungspflege.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Hintergrund und Begründung
2.1 Zusammenhang zwischen Pflege, Behinderung und demographischem Wandel
2.2 Gesundheitsförderung und Prävention
3 Zielsetzung und Fragestellung
4 Theoretische Begriffsklärung
4.1 Behinderung
4.2 Geistige Behinderung
4.3 Kompetenz
4.4 Pflege
4.5 Pflegebedürftigkeit versus Pflegebedarf
4.6 Pflegekompetenz anhand des Pflegeprozesses
5 Theoretischer Rahmen
5.1 Modell von Dreyfuss und Dreyfuss
6 Methodologisches Vorgehen
6.1 Aussagen zur Literaturrecherche
6.2 Qualitative Forschung
6.3 Expertinneninterviews
6.4 Untersuchungsfeld, Feldzugang und Auswahl der Expertinnen
6.5 Leitfragen für das Expertinneninterview
7 Durchführung und Auswertung des Interviews
7.1 Durchführung der Interviews
7.2 Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring
7.3 Auswertung der Interviews
8 Diskussion der Ergebnisse
9 Fazit
10 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Das Berufsfeld der Heilerziehungspflege, vorwiegend sozial- und heilpädagogisch geprägt (vgl. BAG 2008), erfährt in den letzten Jahren einen stetigen Wandel. Menschen mit Behinderungen verändern sich und zeigen einen erhöhten Pflegebedarf auf. Aufgrund der deutschen Geschichte wird die Behindertenhilfe erstmalig mit Bedürfnissen und pflegerischen Erfordernissen von älter werdenden Menschen mit Behinderungen konfrontiert (vgl. KRAFT 2006: 193). Hinzu kommt, dass junge Menschen mit komplexen Behinderungen spezielle Anforderungen an die Begleitung und Pflege stellen. Zudem können jüngere Menschen ebenfalls demenzielle Störungen oder chronische Krankheiten entwickeln und konfrontieren sowohl die Gesundheits- und Krankenpflege als auch die Altenpflege mit neuen Fragen und fordern die aktuellen Berufsgruppen zum Umdenken auf.
Durch erhöhte Pflegebedürftigkeit rücken Prävention und Rehabilitation immer mehr in den Fokus. Verschiedene Berufsgruppen im Gesundheitssystem stehen vor neuen Herausforderungen. Menschen mit Behinderungen benötigen in Fragen der Gesundheitsfürsorge mehr Unterstützung bzw. Assistenz zur Gestaltung ihrer Lebenssituation und zunehmend Pflege von den sie begleitenden Heilerziehungspflegerinnen[1].
Dies hat zur Folge, dass die Heilerziehungspflegerinnen und die Praxisanleite- rinnen, welche für die Auszubildenden in der Fachpraxis verantwortlich sind, ihre Pflegekompetenzen erweitern müssen.
Die staatlich anerkannte Ausbildung der Heilerziehungspflegerinnen führt die Auszubildenden hin zur Verantwortung für Menschen mit Behinderungen verschiedener Altersstufen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Voraussetzungen. Die Heilerziehungspflegerinnen begleiten, unterstützen und assistieren den Menschen mit Behinderung je nach Bedarf auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene. Um diesem Ausbildungsziel gerecht zu werden, bedarf es einer breit ausgebildeten Handlungskompetenz (vgl. HEP-Bundesverband 2008).
Der Fokus dieser Arbeit ist darauf ausgerichtet:
Welche Pflege braucht der Mensch mit Behinderung? - Bedeutung der Pflegekompetenz für die Heilerziehungspflege -
In dieser Arbeit steht der Mensch mit einer sogenannten geistigen Behinderung im Vordergrund; damit sind oftmals körperliche und seelische Behinderungen verbunden.
2 Hintergrund und Begründung
Nachfolgend wird der Hintergrund der vorliegenden Arbeit erläutert und begründet. Als erster Schritt wird der Zusammenhang zwischen Pflege, Behinderung und der Eingliederungshilfe erörtert. Der Fokus dieser Arbeit bezieht sich hauptsächlich auf Menschen mit Behinderung, die in stationären Einrichtungen der anthroposophischen Behindertenhilfe leben.
2.1 Zusammenhang zwischen Pflege, Behinderung und demographischem Wandel
In Deutschland ist die Erfassung von Menschen mit einer geistigen Behinderung und ihren gesundheitlichen Problemen recht lückenhaft, meistens wird die Gruppe der schwerbehinderten Menschen zusammen und nur selten differenziert dargestellt. Dies erschwert konkrete präventive und rehabilitative Maßnahmen für Menschen mit Behinderung (vgl. HOFFMANN 2003). In der Statistik vom 31.12.2007, bezogen auf Deutschland, werden zahlenmäßig zusammen abgebildet: Menschen mit „Querschnittslähmungen, zerebralen Störungen, geistig-seelischen Behinderungen und Suchterkrankte“. Das stellt eine Gruppe mit 1.305.481 betroffenen Menschen dar und entspricht 18,9 % aller Behinderten in Deutschland. Des Weiteren wird eine Gruppe mit „sonstigen und ungenügend bezeichneten Behinderungen“ mit 1.158.853 betroffenen Menschen und 16,8 % behinderten Menschen in Deutschland erfasst (vgl. STADT LEIPZIG, AMT FÜR STATISTIK UND WAHLEN 2007).
Die allgemeine demographische Entwicklung betrifft auch Menschen mit Behinderung in stationären Einrichtungen. Demenzielle Störungen und komplexe Behinderungen nehmen zu. Pflege in der Lebensbegleitung von Menschen mit Behinderung wird dadurch zunehmend an Bedeutung gewinnen. Das wird sich maßgeblich auf den Pflegebedarf und auf die Pflegekompetenzen der Pflegenden auswirken (vgl. TIESMEYER 2003). Das Alter, bei Menschen mit und ohne Behinderung ist immer individuell und unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von Alterungsprozessen der Gesamtbevölkerung. Jedoch können Menschen mit Behinderung schon in jungen Jahren einen erhöhten Pflegebedarf aufweisen. Hinzu kommt, dass gerade bei Menschen mit komplexen Behinderungen über den Weg der somatischen Pflege eine Kommunikationsebene entstehen kann (vgl. HILKENBACH 2001).
Nach KLAUß (vgl. 2006: 18) besteht die Pflege bei Menschen mit Behinderung aus pädagogischen und andragogischen Elementen. Die Beziehungen zwischen Pädagogik und Pflege sind nicht von der Hand zu weisen. Sie stehen in einem komplexen Verhältnis zueinander, beispielsweise in der basalen Stimulation.
„Pflege ist die Vorraussetzung von Pädagogik, weil diese nur auf der Grundlage einer guten Pflege möglich ist“ (KLAUß 2006: 20).
Menschen mit Behinderung sind auf Anregungen und Angebote angewiesen, da sie schlechter an Bildungsangebote angeschlossen sind (vgl. BEB 2001). Bildung und die damit verbundene Lebensführung, Umweltfaktoren und die psychosoziale Situation beeinflussen maßgeblicher den Alterungsprozess als die genetischen Voraussetzungen (vgl. SCHULZ-NIESWANDT 2006: 152). Generell kann formuliert werden, dass sich das Lebensalter von Menschen mit Behinderung dem der Gesamtbevölkerung angleichen wird; bis auf Menschen mit Trisomie 21 und komplexen Behinderungen, die aufgrund ihrer genetischen Voraussetzungen oder bedingt durch mehrere somatische Einschränkungen ein erhöhtes gesundheitliches Risiko aufzeigen (vgl. HAVEMANN, STÖPPLER 2004). Menschen mit Behinderung zeigen im Alter häufig Ermüdungserscheinungen auf körperlicher und seelischer Ebene auf (vgl. KRUSE 2006: 124). Grundsätzlich muss bei Menschen mit geistiger Behinderung differenziert werden zwischen Störungen und Beschwerden, die im Zusammenhang stehen zu der angeborenen geistigen Behinderung und den entzündlichen, degenerativen Erkrankungen des Alters. Dabei können Alterungsprozesse überlagernd auftreten und das Erscheinungsbild maßgeblich verändern. (vgl. KRUSE 2006: 122). Nach KLAUSS (vgl. 2006: 18) sollte Pflege sich an dem ausrichten, was der Mensch braucht, um körperlich und seelisch ein Wohlgefühl zu entwickeln und um sich entfalten zu können. Pflege bietet eine Grundlage, um prophylaktisch Krankheiten zu vermeiden und lindert Beschwerden.
Die verbesserten medizinischen Fortschritte werden dazu beitragen, dass die Gruppe der älter werdenden Menschen mit Behinderung künftig quantitativ ansteigt (vgl. BUMIFA 2006: 223). Menschen mit geistiger Behinderung zeigen aufgrund ihrer genetischen Disposition mögliche Beeinträchtigungen in ihren körperlichen Strukturen und Funktionen auf. Dies führt in vielen Fällen zu besonderen gesundheitlichen Risiken und Problemen (vgl. JANITZEK 2002; TIESMEYER 2003; DING-KREINER, KRUSE 2004). Verstärkt treten im Alter Beeinträchtigungen der Sinne, der Schilddrüsenerkrankungen, Haut- und Herzerkrankungen auf. Menschen mit geistiger Behinderung und insbesondere Menschen mit Morbus Down sind davon betroffen (vgl. KRUSE 2006: 123).
In der nachfolgenden Tabelle wird exemplarisch das Krankheitsrisiko am Beispiel des beschränkten Seh- und Gehörsinnes und am Beispiel der Schilddrüsenunterfunktion aufgezeigt. Der Vergleich bezieht sich auf die Gesamtbevölkerung und Menschen mit Behinderung. Die Daten wurden entnommen aus DING-KREINER/KRUSE 2004.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1: Erkrankungsrisiko im Alter - Ding-Kreiner/Kruse 2004
Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass die gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Menschen mit Behinderung wesentlich höher sind, als im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Auch nehmen die Verlaufsformen von Krankheiten und gesundheitlichen Störungen häufig eine atypische Entwicklung und hemmen die Diagnostik. Erschwerend kommen individuelle kommunikative Besonderheiten, motorische Einschränkungen und spezifisches Verhalten hinzu (vgl. BEB 2001: 61). Gesundheitliche Beeinträchtigungen von älteren Menschen mit Behinderungen werden nicht immer sofort erkannt oder falsch interpretiert. Dies kann zu einer Unterversorgung führen. Im Gesundheitssystem und in der professionellen Begleitung von Menschen mit Behinderung reicht das vorhandene Wissen nicht immer aus. Die Rahmenbedingungen, das Zeitbudget und mangelnde spezielle Kenntnisse hemmen die optimale Versorgung von Menschen mit Behinderung (vgl. BEB 2001). Die spezifische Prägung der unterschiedlichen Disziplinen, medizinisch, pflegerisch, heilpädagogisch oder pädagogisch ausgerichtet, verfügen oftmals über einen eingeschränkten Blick auf ihr „Arbeitsfeld“ (vgl. THEUNISSEN 1995; BEB 2001; MARTIN 2003). Die Korrelation zwischen Behinderung, Alter und Pflegebedarf ist signifikant und darf nicht ignoriert werden (vgl. BUMIFA 2006: 225). Die Lebenserwartung von Menschen mit Behinderung ist in den letzten Jahrzehnten deutlich gewachsen. Dennoch ist die Mortalitätsrate bei Menschen mit Behinderung auffällig. Beispielsweise führen Atemwegerkrankungen, Erkrankungen des Verdauungstraktes und Infektionserkrankungen bei Menschen mit Behinderung häufiger zum Tode als im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (vgl. KRUSE 2006; SCHULZ-NIEWANDT 2006). Die Mortalitätsrate bei Menschen mit Down Syndrom, die an Demenz erkrankt sind, weist darauf hin, dass sie häufiger betroffen sind und im Besonderen 20 bis 30 Jahre früher als die Gesamtbevölkerung an Demenz erkranken (vgl. SCHULZ-NIEWANDT 2006). Zum gefährdeten Personenkreis zählen ebenfalls Menschen mit Cerebral Parese, die aufgrund einer Hirnschädigung den Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderungen zugeordnet werden. Diese Gruppe weist ebenfalls eine erhöhte Mortalitätsrate auf.
Zusammenfassung:
Menschen mit Behinderung sind nicht von vornherein krank, sie sind aber aufgrund ihrer gesundheitlichen Dispositionen besonders gefährdet und benötigen in der Lebensführung eine spezifische pflegerische Versorgung (vgl. BEB 2001: 61). Menschen mit Down Syndrom und schweren geistigen Behinderungen, die häufig auch zu körperlichen Behinderungen führen, sind besonders betroffen.
Die Problematik der Pflege innerhalb der Eingliederungshilfe
„Die Pflege übernimmt wichtige Aufgaben in der Rehabilitation und übt damit umfassende Wechselwirkungen auf die anderen Gebiete aus. Pflege gehört - neben der ärztlichen Versorgung meist zu den ersten Leistungen des Rehabilitationsteam. ...Das erste Ziel beim Eintritt einer Behinderung ist, die Abhängigkeit eines Betroffenen so weit zu reduzieren, dass er sich möglichst selbst versorgen kann" (ENDES 1997:54 zit. nach FORNEFELD 2008a: 59).
Bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland haben Menschen mit Behinderung das Recht auf Unterstützung, Begleitung und Hilfe (vgl. BERLIN-INSTITUT 2009: 53). In der Bundesrepublik Deutschland leben in vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe ungefähr 450.000 Menschen mit Behinderung (vgl. BMFSFJ 2006). Menschen mit Behinderung haben laut SGB XII ein Recht auf Eingliederungshilfe. Grundsätzlich haben alle pflegebedürftigen Menschen nach dem SGB XI das Recht, die Pflegeversicherung in Anspruch zu nehmen und deren Leistung zu empfangen. Die Pflege bei Menschen mit Behinderung zählt als ein integraler Bestandteil der Eingliederungshilfe und gehört in die Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers (vgl. §55: 1 SGB XII, § 13 Abs. 3: 3 SGB XI; vgl. BEB 2008: 6). Sozialrechtlich betrachtet ist die Pflegeversicherung kein Kostenträger für Rehabilitationsmaßnahmen.
Menschen mit Behinderung weisen aber immer wieder einen Hilfebedarf bei der Körperpflege, Nahrungsaufnahme, Mobilisation und weiteren Pflegemaßnahmen auf, welcher das Budget überschreitet. Zum Ausgleich unterstützt die Pflegeversicherung pflegebedürftige Menschen pauschal mit ca. 10 % des Heimentgeltes. Die Kostenbeteiligung übersteigt aber nicht 256 € (vgl. §43a SGB IX)[2] (vgl. BERLIN INSTITUT 2009: 66). Diese Kostenbeteiligung reicht in vielen Fällen nicht aus, um die tatsächlichen finanziellen Aufwendungen des Pflegebedarfs zu decken. Die Frage der zusätzlich anfallenden Kosten ist bisher noch nicht beantwortet. Bis jetzt ist nicht abzusehen, dass in Zukunft die Einrichtungen der Behindertenhilfe als „Häuslichkeit" anerkannt werden und somit eine Refinanzierung durch Pflegekassen möglich würde (vgl. § 23, SGB IX). Im Grunde steht hinter der Auseinandersetzung um die Finanzierung der Pflegeaufwendungen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe der Versuch der Kostenträger, sich gegenseitig die finanziellen Aufwendungen zuzuweisen (vgl. SEIFERT 2006: 6).
Die Tradition und Geschichte der Behindertenhilfe ist lange Zeit hauptsächlich geprägt durch medizinische Konzepte mit biologisch-defizitären Ansätzen zu geistiger Behinderung (vgl. Kapitel 4.1). Im Laufe der Entwicklung traten pädagogische Konzepte in der Betreuung und Versorgung von Menschen mit Behinderung mehr in den Vordergrund (vgl. HÄßLER 2005: 6). Diese Ausrichtung ist möglicherweise ein Grund dafür, dass pflegerelevante und gesundheitsbezogene Themen bisher zu wenig Beachtung in der Behindertenhilfe einnehmen. Dabei bietet die Pflegequalität einen wichtigen Ansatz innerhalb der Erhaltung von Lebensqualität (vgl. SEIFERT 2006: 6).
Das Ziel, Lebensqualität zu erhalten, zählt zu den originären Aufgaben der Pflege als auch der Rehabilitationsmaßnahmen (vgl. BARTOLOMYCZIK 2003: 8; SEIFERT 2006). Menschen mit Behinderung haben das Recht, in Einrichtungen der Eingliederungshilfe alt zu werden. Doch mit dem Alter sind oftmals Krankheiten verbunden und der Mensch mit Behinderung verfügt nicht über ausreichende Kompensationsmöglichkeiten und benötigt dadurch eine spezifische Pflege. Entscheidend bei aller kontroverser Diskussion ist die Fragestellung, ob die Einrichtungen den gesamten Betreuungs- und Pflegebedarf fachgerecht übernehmen können (vgl. SEIFERT 2006: 6). Die Betreuung in den Lebensorten der Eingliederungshilfe wird meistens von Heilerziehungspflegerinnen, Heilpädagoginnen und Sozialpädagoginnen übernommen. Nur zu einem geringeren Anteil arbeiten Altenpflegerinnen oder Gesundheits- und Krankenpflegerinnen in den Einrichtungen.
Dagegen haben Heilerziehungspflegerinnen oftmals die Sorge, auf „Pflege" reduziert zu werden. In der Auseinandersetzung mit pflegebedürftigen behinderten Menschen könnte in der konkreten Pflegesituation ein neues Verständnis zwischen pädagogischem, andragogischem und Pflegewissen entstehen (vgl. TIESMEYER 2003: 51; KLAUß 2006: 20). Wenn ein Mensch mit Behinderung Hunger, Durst oder Schmerzen hat, ist er nicht in der Lage, „Neues" zu lernen.
Erst wenn die Grundbedürfnisse befriedigt wurden, ist der Weg für eine pädagogische Arbeit möglich. Nach KANNE & KLAUß (vgl. 2003:49) kann die Pflege als eine Voraussetzung betrachtet werden, pädagogische Maßnahmen grundlegend vorzubereiten. Menschen mit komplexen oder mit Schwerstmehrfach- behinderungen haben von sich aus nicht immer eine entsprechende Wahrnehmung für ihre Grundbedürfnisse. Mittels der Pflege können Grundbedürfnisse unterstützt, beziehungsweise geweckt werden. Einem Menschen mit Sondenkost ist nicht möglich, ein Bedürfnis nach individueller Nahrung zu entwickeln. Zum Beispiel setzt eine Vorliebe für individuelle Speisen voraus, dass ein Geschmackserlebnis stattfand. Diese sensorische Sensation stellt eine Form von Bildung zur kulturellen und individuellen Vielfalt der Ernährung dar. So schafft Pflege eine Grundlage für Bildung (vgl. KLAUß 2006: 20).
Auch die kommunikative Ebene, als zentraler Baustein jeder Pflege, erfährt bei Menschen mit Behinderung eine Besonderheit, da sich nicht jeder Betroffene adäquat ausdrücken kann (vgl. SEIFERT 2006: 6). Mangelhafte sprachliche Ausdrucksfähigkeit kann dazu führen, dass Menschen mit Behinderung Ängste und Unsicherheiten entwickeln können (vgl. HENNICKE 2002: 146). Der Mensch mit Behinderung ist davon abhängig, dass die Heilerziehungspflegrinnen ihn verstehen lernen. Dabei spielt die zeitliche Beziehung, das Kennenlernen eine wichtige Rolle. In Einrichtungen der Eingliederungshilfe leben Menschen mit Behinderung meistens bis zum Tode. Im Idealfall ist die Beziehung durch Dauer gekennzeichnet (vgl. ROTHE & SÜß 2000: 518).
Zusammenfassung:
Der Mensch mit Behinderung ist auf Pflege angewiesen und eine qualitative Pflege stellt einen wesentlichen Beitrag für das Wohlbefinden und für die Lebensqualität dar. (vgl. SEIFERT 2006: 6) Um zu entscheiden, was eine gute pflegerische Handlung darstellt, müssen Kriterien entwickelt werden. Durch eine gezielte Zusammenarbeit zwischen Einrichtungen der Eingliederungshilfe und der Pflege kann die Gesundheit und das Lebensgefühl von Menschen mit Behinderung optimiert werden. Die Überwindung von Kommunikationsproblemen bedarf der Zeit und das Einfühlungsvermögen der Heilerziehungspflegerinnen.
Pflegeverständnis der Bundesarbeitsgemeinschaft in der Heilerziehungspflege
Das klassische Berufsbild in Einrichtungen der Eingliederungshilfe ist die Heilerziehungspflege. Im Kompetenzprofil der Bundesarbeitsgemeinschaft der Ausbildungsstätten für Heilerziehungspflege und Heilerziehung in Deutschland e. V. werden umfassende Kompetenzen zu Pflege und Assistenz formuliert:
„HeilerziehungspflegerinnenInnen verstehen Pflege in der charakteristischen Ganzheitlichkeit ihres Berufsfeldes. Sie haben ein Pflegeverständnis, welches die klassischen Formen der Grundpflege, die erweiterte Grundpflege und die Behandlungspflege integriert und diese mit den klientenzentrierten Ansprüchen nach größtmöglicher Selbstbestimmung, Selbstversorgung und Unabhängigkeit verbindet. Pflege ist für die HeilerziehungspflegerinnenInnen professionelle, konzeptionelle, lebensalterbezogene und kommunikative Hilfe“ (vgl. BAG-HEP 2008: 9).
Ebenfalls wird formuliert, dass die Ausbildungsstätten, je nach Ländervorgabe, die praktische pflegerische Ausbildung selber regeln und diese sich an den Interessen der jeweiligen Zielgruppe, dem Träger und den Kooperationspartnern der Behindertenhilfe orientiert (vgl. BAG-HEP 2006). In der Verordnung des Sozialministeriums über die Ausbildung und Prüfung an den Fachschulen für Sozialwesen der Fachrichtung Heilerziehungspflege vom 13. Juli 2004 für Baden-Württemberg werden innerhalb der 2000-Stunden-Theorie 130 Stunden für den Pflegeunterricht veranschlagt (vgl. APrOHeilErzPfl 2004:626). Dies zeigt auf, dass die Pflege bisher keinen Schwerpunkt innerhalb des Berufsbildes der Heilerziehungspflege aufweist.
2.2 Gesundheitsförderung und Prävention
Rollenwechsel im Gesundheitswesen: Patienten werden zu Kunden und gestalten ihre präventiven Maßnahmen (vgl. BRANDENBURG 2000). Wie können Menschen mit Behinderung aktive Partner des Gesundheitswesens werden? Welche Kompetenzen müssen ausgebildet und unterstützt werden?
„Obwohl Pflege heute die individuelle Situation, das soziale Umfeld und das Mitspracherecht des pflegebedürftigen Menschen stärker berücksichtigt, bleibt er weitgehend „Patient“. Trotz des Paradigmenwechsel in der Pflegeforschung, weg von der versorgungstechnischen hin zur fördernden Pflege, bleibt die Orientierung an einem körperlich wie geistig seelischen Gesundheitsideal letztlich bestehen und der Kompensationsgedanke erhalten, was in der Übertragung auf Menschen mit schwerer Behinderung problematisch ist und die Gefahr ihrer Objektivierung im Pflegeprozess in sich birgt“ (vgl. FORNEFELD 2001: 71).
Menschen mit geistiger Behinderung sind ihrer Umgebung sehr oft ausgeliefert. Soziale und umgebungsbedingte Belastungen erhöhen das Risiko psychischer Beschwerden. Sie besitzen weniger kognitive und psychische Ressourcen oder können diese nicht immer nutzen (vgl. KRUSE 2006: 123).
Menschen mit Behinderung verfügen im Alter oftmals über weniger Kompetenzen zur eigenen Gesundheitsvorsorge. Nach COOPER (vgl. 1998) beeinflusst der Grad der Behinderung die Kompetenzentwicklung. Allgemeingültige Aussagen zu treffen erweist sich allerdings als schwierig, da die Kompetenzentwicklung von verschiedenen Faktoren abhängig ist (vgl. Kapitel 4.3).
„Für Menschen mit geister Behinderung erschließen sich die allgemein zugänglichen Informationen (Z. Massenmedien, schulischer Lehrstoff) zur Gesundheitsförderung und die Angebote der Gesundheitsbildung nur schwer oder gar nicht. Sie bedürfen deshalb der speziellen Vermittlung, Unterstützung und Anleitung. Dabei sind nicht allein inhaltliche Aspekte, sondern vor allem didaktischmethodische Besonderheiten zu berücksichtigen“ (vgl. BEB 2001: 45).
Dies zeigt auf, dass entsprechende Bildungsangebote für Menschen mit Behinderung unbedingt bereitgestellt werden müssen. Bildungsangebote zur Gesundheitsförderung und Prävention sollen Menschen mit Behinderung dazu befähigen und ermuntern, ihre Kompetenzen zu erkennen und weiter auszubauen, damit sie ihre Selbstständigkeit und Teilhabe entwickeln und beibehalten können (Vgl. SENCKEL 2004). Gesundheitsförderung und Präventionen werden betrachtet als Erhaltung und Förderung der Gesundheit, der Vermeidung von Krankheit und daraus entstehenden Behinderungen. Dazu zählen: Förderung der Bewegung, eine gesunde Ernährung, ausreichender Schlaf, ausgewogener Gebrauch von Genussmitteln und die Vermeidung von Suchtmitteln (vgl. BEB 2001: 44). Menschen mit Behinderung werden durch präventive Angebote bisher nur ungenügend bedacht.
3 Zielsetzung und Fragestellung
Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, Informationen zum Untersuchungsgegenstand, welche Pflege braucht der Mensch mit Behinderung und die Bedeutung der Pflegekompetenz für die Heilerziehungspflege, zu erfassen. Das Besondere, das Spezifische in der Pflege von Menschen mit Behinderung soll dabei herauskristallisiert werden. Des Weiteren sollen mögliche „Defizite" in der pflegerischen Versorgung von Menschen mit Behinderung erfasst und konkretisiert werden. Dies könnte die Basis im späteren Verlauf für Empfehlungen gezielter Schulungsangebote sein. Die Empfehlungen dieser Arbeit könnten auch eine mögliche Anregung für curriculare Änderungen in der Ausbildung sein. Als ein weiteres Ziel wird versucht, die präventive Versorgung von Menschen mit Behinderung zu optimieren, indem durch die Bündelung der Ergebnisse aus den Interviews, die interdisziplinäre Zusammenarbeit angeregt werden könnte. Die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung kann auf diesem Weg verbessert und mögliche Krankheiten könnten gezielter behandelt werden. Ein zusätzlicher Aspekt stellt eine bessere Integrierung des strukturierten Pflegeprozesses in der Pflege von Menschen mit Behinderung dar. Anhand des Pflegeprozesses wird versucht, die Kompetenzentwicklung darzustellen. Er könnte als Arbeitsinstrument in der Heilerziehungspflege installiert werden, um Pflegekompetenz gezielter auszubilden.
[...]
[1] Da in der Heilerziehungspflege mehr weibliche Mitarbeiterinnen tätig sind, wurde im weiteren Verlauf der Arbeit aufgrund der Lesbarkeit immer die weibliche Form genannt, die männliche Form ist dabei mit eingeschlossen.
[2] Die anteilige Kostenbeteiligung der Pflegekassen berührt nicht den Status der Behinderteneinrichtungen der Eingliederungshilfe.
- Quote paper
- Elke Zech (Author), 2009, Welche Pflege brauchen Menschen mit Behinderung?, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/148270