Menschen mit geistiger Behinderung, die in Institutionen der Behindertenhilfe leben, sind häufig auf pflegerische Unterstützung angewiesen. Die Relevanz pflegerischer Versorgung in diesem Bereich wird in Zukunft weiterhin zunehmen. Die Entwicklungen im Gesundheitssektor, höhere Lebensqualität und ein besseres Bildungssystem haben zur Folge, dass die Lebenserwartung der Menschen kontinuierlich steigt. Ein weiterer Grund ist in den strukturellen Versorgungsbedingungen zu finden. In Zukunft werden neben älteren Menschen vor allem Menschen mit schweren Behinderungen und erhöhtem pflegerischem Bedarf in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe versorgt.
Dabei werden die Pflegenden mit speziellen Herausforderungen konfrontiert, denn die Lebensbegleitung von Menschen mit geistiger Behinderung beinhaltet pflegerische Problemstellungen, die in besonderer Weise berücksichtigt werden müssen. In der Praxis stellt sich täglich die Frage: „Welche Pflege brauchen Menschen mit geistiger Behinderung?“
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, das Spezifische der pflegerischen Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung zu erfassen. Es wird durchleuchtet, welche Formen der Pflegebedürftigkeit und welche individuellen Bedürfnisse die Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung umfasst. Die Ergebnisse der Untersuchung sollen als Ausgangslage für die Entwicklung eines angemessenen Versorgungskonzeptes dienen, um die pflegerische Begleitung dieser Personengruppe zu optimieren und somit ihre Lebensqualität zu erhöhen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung: gesellschaftliche und professionelle Relevanz
2 Theoretischer und konzeptioneller Rahmen
2.1 Maslowsche Bedürfnispyramide
2.2 Definition der Schlüsselbegriffe
2.3 Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung
3 Empirische Studie: Pflegebedarf und individuelle Bedürfnisse in der Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung
3.1 Zentrale Fragestellung
3.2 Ziele der empirischen Untersuchung
3.3 Forschungsdesign - Grounded Theory
3.4 Untersuchungsfeld und Feldzugang
3.5 Auswahl der Untersuchungseinheit und Population
3.6 Datenerhebung: methodisches Vorgehen
3.7 Durchführung der empirischen Studie
4 Untersuchungsergebnisse
4.1 Der Beobachtungsbogen
4.2 Die Experteninterviews
5 Interpretation der Ergebnisse
5.1 Information: Probleme, Ressourcen und individuelle Bedürfnisse
5.2 Ziele
5.3 Planung und Durchführung
5.4 Evaluation
6 Literaturverzeichnis
7 Anhang
1 Einleitung: gesellschaftliche und professionelle Relevanz
Menschen mit geistiger Behinderung, die in Institutionen der Behindertenhilfe leben, sind häufig auf pflegerische Unterstützung angewiesen. Die Relevanz pflegerischer Versorgung in diesem Bereich wird in Zukunft weiterhin zunehmen. Die Entwicklungen im Gesundheitssektor, höhere Lebensqualität und ein besseres Bildungssystem haben zur Folge, dass die Lebenserwartung der Menschen kontinuierlich steigt. Der demografische Wandel macht sich nun, etwas verspätet, auch im Bereich der Behindertenhilfe bemerkbar. Der Grund ist im Euthanasieprogramm des Dritten Reiches zu finden. In den Jahren 1941 bis 1945 fielen die meisten Menschen mit geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung dem Nazi-Regime zum Opfer (vgl. Kreuzer, 1996).
Ein weiterer Grund ist in den strukturellen Versorgungsbedingungen zu finden. In Zukunft werden neben älteren Menschen vor allem Menschen mit schweren Behinderungen und erhöhtem pflegerischem Bedarf in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe versorgt.
Zuletzt gilt es noch die organisatorischen Veränderungen in der Krankenhausversorgung zu erwähnen, die mit der Einführung der G-DRGs1 unter anderem auch frühere Entlassungen mit sich brachten und eine entsprechende pflegerische Versorgung „zu Hause“ notwendig machten (vgl. BEB 2008).
In der Behindertenhilfe der Zieglerschen Anstalten werden in Rotachheim, Haslachmühle und den Offenen Hilfen rund 450 Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ältere Menschen - vor allem mit geistiger und Hör-Sprach- Behinderung begleitet. Angehörige unterschiedlicher Berufsgruppen stehen hier vor der Aufgabe, die betroffene Personengruppe nicht nur aufgrund der Pflegebedürftigkeit, sondern ebenso unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse und der entsprechenden Lebenssituation zu pflegen.
Dabei werden die Pflegenden mit speziellen Herausforderungen konfrontiert, denn die Lebensbegleitung von Menschen mit geistiger Behinderung beinhaltet pflegerische Problemstellungen, die in besonderer Weise berücksichtigt werden müssen. In der Praxis stellt sich täglich die Frage: „Welche Pflege brauchen Menschen mit geistiger Behinderung?“
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, das Spezifische der pflegerischen Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung zu erfassen. Es wird durchleuchtet, welche Formen der Pflegebedürftigkeit und welche individuellen Bedürfnisse die Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung umfasst. Die Ergebnisse der Untersuchung sollen als Ausgangslage für die Entwicklung eines angemessenen Versorgungskonzeptes dienen, um die pflegerische Begleitung dieser Personengruppe zu optimieren und somit ihre Lebensqualität zu erhöhen. Angesichts der demografischen Entwicklung wird das Thema Pflege häufig auf die alt werdenden Menschen mit geistiger Behinderung eingegrenzt. In der Behindertenhilfe werden jedoch Menschen aller Altersgruppen gepflegt. Die Fragen zur pflegerischen Versorgung müssen sich deshalb auf die gesamte Lebensspanne beziehen.
Im ersten Teil der Arbeit wird der theoretische und konzeptionelle Rahmen skizziert. Zunächst werden einige wesentliche Aspekte der Bedürfnistheorie nach Maslow vorgestellt sowie die Grundlagen und Grundbegriffe der geistigen Behinderung, der Pflegebedürftigkeit, des Pflegebedarfs und der individuellen Bedürfnisse geklärt. Des Weiteren werden die wesentlichen Aspekte der Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung erläutert sowie das Verhältnis von Pflege und Pädagogik näher beleuchtet.
Der zweite Teil widmet sich der Vorstellung der Studie „Pflegebedarf und individuelle Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung“. Im dritten Teil schließt sich eine Darstellung der Ergebnisse der Arbeit sowie eine Diskussion im Hinblick auf die Konsequenzen für die Praxis an. Abschließend werden einige Empfehlungen für ein pflegerisches Konzept für die Behindertenhilfe ausgesprochen.
2 Theoretischer und konzeptioneller Rahmen
2.1 Maslowsche Bedürfnispyramide
In der vorliegenden Arbeit geht es primär darum, die individuellen Bedürfnisse der Menschen mit geistiger Behinderung zu erfassen. Als konzeptioneller Bezugsrahmen wurde hier die Motivationstheorie gewählt, die 1954 von Abraham Maslow entwickelt wurde. Die Grundlage für Maslows Motivationstheorie bildet eine in fünf Bedürfnisklassen unterteilte Bedürfnispyramide. „Maslow geht von einer Hierarchie der Bedürfnisse aus. Zuerst müssen die Grundbedürfnisse (Hunger, Durst) erfüllt werden, bevor andere Bedürfnisse befriedigt werden können“ (Arets & Obex & Vaessen & Wagner 2000).
Die unterste Stufe gilt als Ausgangspunkt der Motivationstheorie. Sie beinhaltet die grundlegenden Bedürfnisse, welche das physiologische Gleichgewicht, die sogenannte Homöostase, erhalten sollen. Dies sind unter anderem das Bedürfnis nach Nahrung, das Bedürfnis nach Kleidung, das Bedürfnis nach Schlaf und das Bedürfnis nach Sexualität. „Ohne Zweifel sind diese physiologischen Bedürfnisse die mächtigsten unter allen (...) Jemand, dem es an Nahrung, Sicherheit, Liebe und Wertschätzung mangelt, würde wahrscheinlich nach Nahrung mehr als nach etwas anderem hungern“ (Maslow 2008, S. 63).
Sobald die physiologischen Bedürfnisse im Wesentlichen befriedigt sind, kommt die nächste Stufe, die grob als Sicherheitsbedürfnisse des Menschen bezeichnet werden kann. Diese umfasst unter anderem „Sicherheit; Stabilität; Geborgenheit; Schutz; Angstfreiheit; Bedürfnis nach Struktur; Ordnung; Gesetz; Grenzen; Schutzkraft; und so fort“ (Maslow 2008, S. 66).
Die dritte Stufe bildet die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe. Sie werden im Allgemeinen auch als die sozialen Bedürfnisse bezeichnet. Der Mensch strebt danach, in einer Gemeinschaft zu leben und soziale Beziehungen aufzubauen. „Jede gute Gesellschaft muß dieses Bedürfnis befriedigen, auf die eine oder andere Art und Weise, wenn sie überleben und gesund bleiben will“ (Maslow 2008, S. 72).
Auf der vierten Stufe befinden sich die Bedürfnisse nach Achtung. „Alle Menschen in unserer Gesellschaft (mit einigen pathologischen Ausnahmen) haben das Bedürfnis oder den Wunsch nach einer festen, gewöhnlich recht hohen Wertschätzung ihrer Person, nach Selbstachtung und der Achtung seitens anderer“ (Maslow 2008, S. 72).
Selbst wenn alle bereits genannten Bedürfnisse befriedigt sind, wird der Mensch vermutlich noch nicht zufrieden sein. Es ist eher wahrscheinlich, dass eine „neue Unzufriedenheit und Unruhe entsteht, wenn der einzelne nicht das tut, wofür er, als Individuum, geeignet ist (vgl. Maslow 2008, S. 73). Somit finden sich auf der fünften Stufe der Pyramide die Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung. Jeder Mensch versucht demnach die eigenen Möglichkeiten zu realisieren. So strebt er nach Unabhängigkeit und nach Entfaltung seiner Persönlichkeit.
Die hierarchische Darstellung der Bedürfnispyramide zeigt in den ersten vier Stufen die sogenannten Defizit- bzw. Mangelbedürfnisse. Die fünfte Stufe, das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, wird auch Wachstumsbedürfnis genannt. Nach Maslow entsteht ein Mangelbedürfnis nur aus einem Mangelzustand heraus. Erst wenn die Mangelbedürfnisse befriedigt sind, tritt das Wachstumsbedürfnis auf. Demnach liegen der Theorie von Maslow zwei Prinzipien zugrunde: das Defizit-Prinzip und das Progressions-Prinzip. Das Defizit-Prinzip beschreibt das Streben des Menschen nach der Befriedigung seiner bis dato unbefriedigten Bedürfnisse. Das heißt der Mensch hat die Motivation nur beim Vorhandensein eines unbefriedigten Bedürfnisses. Hat er dieses Bedürfnis befriedigt, wird es bei ihm zu keiner Motivationskraft mehr führen. Das Progressions-Prinzip meint die Motivation] des Menschen durch das hierarchisch niedrigste unbefriedigte Bedürfnis (vgl. Schreyögg 2007). Somit ist er zunächst um die Befriedigung der physiologischen Bedürfnisse bestrebt. „Und wenn diese ihrerseits befriedigt sind, kommen neue (und wiederum höhere) Bedürfnisse zum Vorschein, und so weiter“ (Maslow 2008, S. 65).
Die Bedürfnisse treten bei allen Menschen, unabhängig von ihrer Kultur, auf. Unterschiede gibt es nur in der Art, wie sie befriedigt werden: „Sicherlich wird in jeder gegebenen Kultur die bewusste Motivation einer Person extrem vom bewussten Motivationsinhalt einer Person in einer anderen Gesellschaft verschieden sein“ (Maslow 2008, S. 82).
Alle Menschen haben also Bedürfnisse, die befriedigt werden müssen. Die Voraussetzungen dafür sind „Selbständigkeit“ und „Kommunikation“ (Kane & Klauß 2003, S. 28). Menschen mit geistiger Behinderung benötigen bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse häufig Unterstützung. Insbesondere diejenigen mit eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit können ihren Bedürfnissen nicht in geeigneter Weise Ausdruck verleihen. Sie sind auf die Interpretationen anderer Personen angewiesen. Auch bei ihrer Erfüllung benötigen sie Hilfe und Assistenz. Dabei besteht stets die Gefahr, dass Bedürfnisse nicht erkannt, gedeutet und dementsprechend befriedigt werden. „Sie haben wenig Einfluss darauf, welche ihrer Bedürfnisse befriedigt werden und ob ihnen von denen, die Pflege finanzieren oder ausführen, das zugestanden wird, was sie im Zusammenhang mit ihren körperlichen Bedürfnissen benötigen“ (Kane & Klauß 2003).
Unabhängig davon, ob ein Mensch seine Bedürfnisse selbständig oder mit Unterstützung anderer befriedigt, sollte er die Möglichkeit haben, dies selbstbestimmt zu tun. Das Recht auf Selbstbestimmung wird im Artikel 1 des Grundgesetzes festgehalten: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“ (Grundgesetz, Art. 2, Abs. 1). Demnach sollte sich pflegerisches Handeln nach den Wünschen und Bedürfnissen des Empfängers richten. Sie „hat partnerschaftlichen Charakter, der vom Respekt gegenüber dem Patienten und letztendlich von dessen Selbstbestimmungsrecht ausgeht“ (Arets & Obex & Vaessen & Wagner 2000, S. 157).
2.2 Definition der Schlüsselbegriffe
Um eine gemeinsame Ausgangsbasis zum besseren Verständnis der vorliegenden Arbeit zu schaffen, werden im Folgenden die Begriffe der geistigen Behinderung, der Pflegebedürftigkeit und der individuellen Bedürfnisse geklärt.
Geistige Behinderung
Der Begriff „Geistige Behinderung“ lehnt sich an das englische Wort „mental retardation“ an. Er wurde in Deutschland 1958 durch eine Elterninitiative der Lebenshilfe eingeführt.
Im Bemühen um mehr Integration sollte von bis dato etablierten diskriminierenden Bezeichnungen wie „Schwachsinn“, „Idiotie“ und „Blödsinn“ Abstand genommen werden.
Der Versuch, den Begriff geistige Behinderung zu erklären, gestaltet sich schwierig, denn es existiert keine einheitliche, allgemein gültige Definition. Die einzelnen Wissenschaften, die sich mit dem Thema befassen, haben basierend auf eigenem Begriffsverständnis ihre speziellen Theorien entwickelt. Diese werden im erheblichen Maße vom historischen und kulturellen Hintergrund beeinflusst. „Was als geistige Behinderung heute gilt, hatte vor 150 Jahren ein erheblich anderes Bild“ (Speck 1993, S. 39). Der Begriff steht ebenso mit den gesellschaftlichen Werten und Normen in Verbindung wie mit der persönlichen Sichtweise des Betrachters. So werden „Eltern ihr eigenes geistig behindertes Kind anders sehen, als Fachleute“ (Speck 1993, S. 39).
Beim Versuch der unterschiedlichen Disziplinen, den Begriff der geistigen Behinderung zu beschreiben, wird deutlich, dass keine der Definitionen alleine der Komplexität des Phänomens gerecht werden kann (vgl. Speck 2005). Auch der Terminus an sich erscheint unzulänglich, um das Wesen eines Menschen gänzlich zu erfassen. „Niemand ist ausschließlich behindert oder nichtbehindert, wie auch niemand nur krank oder völlig gesund ist. So gesehen kann die Bezeichnung „geistig behindert“ nie dem eigentlichen Wesen eines Menschen gerecht werden“ (Grundsatzprogramm der Lebenshilfe e.V. 1990).
Aus medizinischer Sicht handelt es sich bei der geistigen Behinderung um eine Minderung bzw. Herabsetzung der maximal erreichbaren Intelligenz, welche meist aus einem angeborenen oder früh erworbenen organischen Defekt resultiert. Die geistige Behinderung ist also auf eine körperliche Beeinträchtigung zurückzuführen. Im Mittelpunkt steht die Schädigung des Gehirns, welche sich auch auf andere Körperfunktionen auswirken kann (vgl. Speck 1993). Dabei ist die individuelle Form einer geistigen Behinderung nicht als Folge einer bestimmten körperlichen Schädigung zu sehen, „sondern aus einem komplexen Wirkzusammenhang ‚endogener’ und ‚exogener’, somatischer und sozialer Faktoren“ (Speck 1993).
Die pädagogische Betrachtungsweise ergänzt die reine Beschreibung der „geistigen Behinderung“ um die Tatsache, welche pädagogischen Erfordernisse damit verbunden sind.
Im Mittelpunkt steht also der Bedarf nach pädagogischer Unterstützung. Nach einer Definition des deutschen Bildungsrates gilt als geistig behindert, „... wer infolge einer organisch-genetischen oder anderweitigen Schädigung in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so sehr beeinträchtigt ist, daß er voraussichtlich lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf. Mit den kognitiven Beeinträchtigungen gehen solche der sprachlichen, sozialen, emotionalen und der motorischen Entwicklung einher. Eine „untere Grenze“ sollte weder durch Angabe von IQ-Werten, noch durch Aussprechen einer Bildungsunfähigkeit festgelegt werden, da grundsätzlich bei allen Menschen die Bildungsfähigkeit angenommen werden muß“ (Deutscher Bildungsrat 1973). Somit resultieren aus einer geistigen Behinderung „spezielle Erziehungsbedürfnisse, die bestimmt werden durch eine derart beeinträchtigte intellektuelle und gefährdete soziale Entwicklung, dass lebenslange pädagogisch-soziale Hilfen zu einer humanen Lebensverwirklichung nötig werden" (Speck, 1993, S. 62).
Zusammenfassend betrachtet muten die aufgeführten Definitionen eher defizitär an. Sie gehen stets von einem Defekt aus. Der Begriff „Behinderung“ selbst meint die Beeinträchtigung eines Menschen. Somit kann die Definition an sich stigmatisieren und zur sozialen Ausgrenzung führen. Vor diesem Hintergrund wird der Begriff „geistige Behinderung“ immer wieder kontrovers diskutiert. Feuser stellt ihn gänzlich infrage, indem er behauptet, „Geistigbehinderte gibt es nicht“ (Feuser 2000, S. 149). Fest steht, dass geistige Behinderung nicht ausschließlich mit einem Defekt oder einer Krankheit gleichzusetzen ist. „Sie ist weder eine gesundheitliche Störung, noch eine psychische Krankheit. Sie ist vielmehr ein spezieller Zustand der Funktionsfähigkeit, der in der Kindheit beginnt und durch eine Begrenzung der Intelligenzfunktionen und der Fähigkeit zur Anpassung an die Umgebung gekennzeichnet ist“ (Lindmeier 1993). Dennoch spielen psychische und körperliche Beeinträchtigungen in dem betroffenen Personenkreis eine große Rolle (vgl. Kane & Klauß 2003). Um die entsprechende Hilfe und Assistenz planen und durchführen zu können, müssen diese auch berücksichtigt werden. Dabei dürfen jedoch die individuellen Stärken nicht vergessen werden. Die Aufgabe der Pflege ist es, im Sinne des Pflegeprozesses sowohl Probleme als auch Ressourcen zu erkennen und zu beschreiben, um daraus entsprechende Maßnahmen zu planen.
Für diese Arbeit gilt, dass keine einheitliche Definition von geistiger Behinderung existiert. Es gibt unterschiedliche Betrachtungsweisen der einzelnen Disziplinen, die sich mit dem Phänomen befassen. Dabei stehen bei den meisten Defizite im Vordergrund. Andere gehen wiederum davon aus, dass es den geistig behinderten Menschen gar nicht gibt. Die Pflege betrachtet den Menschen mit geistiger Behinderung ganzheitlich und berücksichtigt im Sinne des Pflegeprozesses ebenso seine Probleme wie auch die vorhandenen Ressourcen.
Pflegebedürftigkeit
In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe „Pflegebedürftigkeit“ und „Pflegebedarf“ verwendet. In der Literatur finden sich diese häufig synonym wieder. Deshalb erscheint es an der Stelle sinnvoll, auf beide Begriffe näher einzugehen und sie voneinander abzugrenzen.
Laut § 14 SGB XI sind Personen pflegebedürftig, wenn sie „wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen“ (SGB XI § 14/SGBXI 2000). Im § 15 werden die einzelnen Pflegestufen beschrieben sowie der Zeitaufwand an pflegerischer Betreuung festgelegt. Seit Einführung der Pflegeversicherung wird diese Definition aus pflegewissenschaftlicher Sicht infrage gestellt, denn sie bezieht sich fast ausschließlich auf körperbezogene Verrichtungen und lässt die ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen missen. So werden wesentliche Aspekte wie Teilhabe oder Kommunikation gar nicht bedacht (vgl. Bundesministerium für Gesundheit 2009). Demenziell Erkrankte oder Menschen mit geistiger Behinderung werden hier nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt.
Vor diesem Hintergrund entwickelte das Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld (IPW) gemeinsam mit dem Medizinischen Dienst ein neues Begutachtungsverfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit, welches auf einem umfangreichen pflegewissenschaftlichen Verständnis basiert. Pflegebedürftigkeit ist ein „personales Merkmal“, das heißt eine Eigenschaft einer Person (vgl. Wingenfeld 2000). Sie bezieht sich auf die reine Einschränkung von Fähigkeiten sowie die vorhandenen Ressourcen.
Dagegen entspricht der Begriff Pflegebedarf der Einschätzung der „als erforderlich angesehenen Handlungen, Maßnahmen und Leistungen“ der Pflegebedürftigen (Wingenfeld 2000). Eine Erhebung des Pflegebedarfs ist also notwendig, um den Bedarf zunächst einmal sichtbar zu machen und daraus die entsprechenden Interventionen abzuleiten. Während die Pflegebedürftigkeit sozusagen das Merkmal des Pflegebedürftigen darstellt, bezeichnet der Pflegebedarf „Art und Umfang der Maßnahmen, die als geeignet und erforderlich gelten, um pflegerisch relevante Problemlagen zu bewältigen“ (Wingenfeld & Schnabel 2002).
Im Zusammenhang mit dem Begriff Pflegebedürftigkeit stellt sich immer die Frage nach deren Entstehung. Was führt dazu, dass ein Mensch pflegebedürftig wird? Eine Krankheit führt nicht zwangsweise zur Pflegebedürftigkeit (vgl. Wingenfeld & Büscher 2009). So ist jemand, der an der Krankheit Diabetes Mellitus Typ II leidet, nicht zwangsweise pflegebedürftig. Wenn er über seine Krankheit informiert ist, die Blutzuckerkontrolle selbst übernehmen kann und alles weitere, was erforderlich ist, benötigt er keine pflegerische Unterstützung. Er ist also in dieser Hinsicht nicht abhängig von der pflegerischen Hilfe. Wenn er dagegen das Blutzuckermessen und die Insulingabe nicht selbst beherrscht, wird er an der Stelle pflegerische Hilfe benötigen. Er ist in diesem Fall „pflegebedürftig“. Das Beispiel soll deutlich machen, dass nicht die Erkrankung, sondern ein Mangel an Ressourcen zur Bewältigung des Problems ausschlaggebend für die Abhängigkeit von pflegerischer Hilfe ist (vgl. Wingenfeld & Büscher 2009). Auch die geistige Behinderung ist nicht zwangsweise mit Pflegebedürftigkeit gleichzusetzen. Ihre Komplexität wurde bereits im Punkt 2.3.1 benannt. Die Formen geistiger Behinderung sind ebenso vielfältig wie die Fähigkeiten und Ressourcen des einzelnen Individuums.
Zusammenfassend betrachtet ist Pflegebedürftigkeit eine „Beeinträchtigung der Selbstständigkeit bei der Durchführung bestimmter Aktivitäten und bei der Gestaltung von Lebensbereichen − als Beeinträchtigung, die pflegerische Unterstützung erforderlich macht“ (Wingenfeld & Büscher 2009). Für die Planung und Durchführung entsprechender pflegerischer Maßnahmen ist somit beim Einschätzen der Pflegebedürftigkeit ein besonderes Augenmerk auf die Ressourcen zu richten.
Das Erfassen der Ressourcen von Menschen mit geistiger Behinderung ist ein wesentlicher Teilaspekt der vorliegenden Arbeit.
Individuelle Pflegebedürfnisse
„Um im Zustand körperlichen, geistigen und sozialen Wohlseins und Wohlbefindens leben zu können, müssen beim Menschen mehrere notwendige Voraussetzungen erfüllt sein, die Bedürfnisse genannt werden“ (Arets & Obex & Vaessen & Wagner 2000, S. 5). Das Thema „Bedürfnisse“ wurde bereits im Punkt 2.2 vor dem Hintergrund der „Maslowschen Bedürfnispyramide“ behandelt. Im Folgenden soll eine Annäherung aus der pflegewissenschaftlichen Betrachtungsweise stattfinden.
Maslows Motivationstheorie bildet die Grundlage für die Entwicklung der Bedürfnismodelle in der Pflege. Diese basieren auf dem Defizitmodell: Pflege ist notwendig, wenn ein Defizit an Bedürfnisbefriedigung besteht (vgl. Arets & Obex & Vaessen & Wagner 2000). So bilden zum Beispiel bei Virginia Henderson vierzehn Bedürfnisse die Grundlage für ihr Pflegemodell. Das Modell von Krohwinkel gliedert die „Bedürfnisse und Fähigkeiten“ in dreizehn Bereiche, wobei ein besonderer Fokus auf die Punkte „Soziale- Bereiche- des Lebens sichern“ und „Mit- existenziellen- Erfahrungen- des- Lebens- umgehen“ gelegt wird (vgl. Arets & Obex & Vaessen & Wagner 2000). Im Mittelpunkt der Theorie von Dorothea Orem steht das Konzept der Selbstpflege und der damit verbundene Begriff des Selbstpflegedefizits. Orem beschreibt in ihrem Buch „Nursing: concepts of practice“ das Konzept der Selbstpflege und den damit verbundenen Begriff des Selbstpflegedefizits. Angelehnt an die Motivationstheorie mit der Hierarchie der Bedürfnisse von Maslow unterscheidet sie zwischen universellen Bedürfnissen, entwicklungsgebundenen Bedürfnissen und Bedürfnissen, die durch Gesundheitsstörungen bestimmt werden.
Universelle Bedürfnisse sind nach Orem diejenigen, die vom Menschen in jedem Fall erfüllt werden müssen. Sie sind Voraussetzung für die weitere Entwicklung. Dazu gehören:
- „Aufrechterhaltung der Sauerstoffaufnahme.
- Aufrechterhaltung der Wasseraufnahme.
- Aufrechterhaltung der Nahrungsaufnahme.
- Aufrechterhaltung der Ausscheidung.
- Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen Aktivität und Ruhe. Huß, Bachelorarbeit im WS 2008/2009
- Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen Individuum und Sozialwesen.
- Vermeidung von Gefahren für die menschliche Existenz, das Funktionieren und das Wohlbefinden.
- Förderung menschlichen Funktionierens und sozialer Entwicklung innerhalb von Gruppen in Übereinstimmung mit den menschlichen Möglichkeiten“ (Arets & Obex & Vaessen & Wagner 2000, S. 10). Der Mensch strebt während seines gesamten Lebens nach dem gesunden und sinnvollen Dasein. Seine Entwicklung hängt von der Bedürfnisbefriedigung ab. Orem unterscheidet hier die Entwicklungsgebundenen Bedürfnisse in zwei Bedürfnisgruppen:
„Das Schaffen oder Gewährleisten von Lebensbedingungen, die eine unterstützende Funktion haben und die die menschliche Entwicklung in den unterschiedlichen Lebensphasen fördern.
Pflege im Zusammenhang mit Bedingungen, die die menschliche Entwicklung nachteilig beeinflussen können“ (Arets & Obex & Vaessen & Wagner 2000, S. 11).
Bedürfnisse, die durch Gesundheitsstörungen bestimmt werden, umfassen unter anderem die Inanspruchnahme von professioneller Hilfe, Information über die betreffende Störung sowie mit den Folgen der Erkrankung leben zu lernen und sich dabei weiterzuentwickeln (vgl. Arets & Obex & Vaessen & Wagner 2000, S. 12).
Pflege setzt dort an, wo die Befriedigung dieser Bedürfnisse dem Einzelnen nicht mehr selbständig möglich ist: „... Pflege ist eine Kunst, durch die der Pflegende, als derjenige, der Pflege praktiziert, Personen mit Einschränkungen spezielle Unterstützung gewährleistet, sofern mehr als eine gewöhnliche Unterstützung notwendig ist ...“ (Orem 1952). Henderson betont die Notwendigkeit der Pflegenden, sich stets dessen bewusst zu sein, dass sie dem Bedürfnismuster des zu Pflegenden entgegenkommen müssen. Daher müssen sie in der Lage sein, sich in den Betroffenen hineinzuversetzen, mit ihm gemeinsam seine Bedürfnisse einzuschätzen, um den entsprechenden Bedarf an Hilfe und Assistenz festzulegen.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, das Spezifische der Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung zu erfassen.
Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die individuellen Pflegebedürfnisse, deren Befriedigung als Voraussetzung für den Zustand des körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens betrachtet wird.
2.3 Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung
Situation der Pflege in der Behindertenhilfe
Ein großer Anteil der Menschen mit geistiger Behinderung lebt in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe. Nach Angaben des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ergab sich für das Jahr 2003 eine Gesamtzahl von etwa 5.100 stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe, ca. 60% davon sind Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung (vgl. BMFSFJ 2006).
In den Institutionen der Behindertenhilfe werden Menschen mit geistiger Behinderung von multidisziplinären Teams begleitet. Mitarbeiter unterschiedlicher Berufsgruppen sind an der direkten pflegerischen und pädagogischen Betreuung dieser Personengruppe beteiligt. Es sind Heilerziehungspfleger, Heilpädagogen, Sozialpädagogen sowie Gesundheits- und Krankenpfleger, die in den Wohngruppen für Menschen mit geistiger Behinderung arbeiten. In der Praxis umfasst der Verantwortungs- und Aufgabenbereich aller im Team Arbeitenden sowohl pädagogische als auch pflegerische Aspekte. Dabei ist es in der Praxis keine Seltenheit, dass Mitarbeiter auch ohne eine entsprechende pflegefachliche Qualifizierung für pflegerische Maßnahmen zuständig sind. Die Ausbildung zum Heilerziehungspfleger hat einen deutlich pädagogischen Schwerpunkt, der pflegerische Anteil wird mit 130 Stunden nur geringfügig berücksichtigt. Umgekehrt räumt die Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger der Thematik von Menschen mit geistiger Behinderung verhältnismäßig wenig Umfang ein. Ohne eine entsprechende Ausbildung beschränkt sich das Handeln auf Erfahrungs- und Alltagswissen, wobei wissenschaftliche Kriterien kaum oder keine Beachtung finden (vgl. Kane & Klauß 2003). Im Sinne professioneller Begleitung der Menschen mit geistiger Behinderung kann dieser Mangel an wissenschaftlichem Wissen dazu führen, dass die Lebensqualität nicht ausreichend berücksichtigt wird. “Pflegequalität hat einen großen Einfluss auf die gesamte Lebensqualität“ (Kane & Klauß 2003).
Die historisch und politisch bedingte pädagogische Dominanz in der Behindertenhilfe könnte eine mögliche Ursache dafür sein, dass pflegerische und gesundheitsrelevante Themen im Zusammenhang mit dem Phänomen geistige Behinderung bisher vernachlässigt wurden (vgl. Schnoor 2007). Dazu gehören zum Beispiel Prävention und Gesundheitsförderung. Daraus ergeben sich deutliche Auswirkungen auf die Lebensqualität. „Gesundheit ist für jeden Menschen ein wesentlicher Aspekt erfüllten Lebens und eine grundlegende Voraussetzung für sinnvolle und erfolgreiche Teilhabe, für Partizipation am Leben in der Gemeinschaft“ (Bundesverband evangelische Behindertenhilfe 2001).
Wie bereits im Vorfeld dargestellt, sind Menschen mit geistiger Behinderung häufig auch von psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen betroffen, die sie in ihren Lebensaktivitäten einschränken. Mit dem Ziel, die Lebensqualität zu erhalten und zu erhöhen, gehört es zu den Aufgaben der Pflege, die Versorgung des Einzelnen zu organisieren und durchzuführen. Dabei gilt es die Pflegebedürftigkeit des Einzelnen einzuschätzen, wobei die Probleme und Ressourcen gleichermaßen berücksichtigt werden müssen, ebenso die individuellen Pflegebedürfnisse. Das Erstellen der Pflegeplanung umfasst die Pflegediagnostik, die Festlegung pflegerischer Ziele, die Planung der Maßnahmen, ihre Durchführung und die Evaluation. Dabei sollten die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse der eigenen Disziplin sowie der Bezugsdisziplinen, zum Beispiel der Pädagogik, berücksichtigt werden. Bisher wurde der Thematik der geistigen Behinderung in der pflegewissenschaftlichen Diskussion jedoch verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit gewährt. Es gibt nur einige wenige Untersuchungen, die beispielsweise Aussagen zur Lebensqualität, zur Pflegebedürftigkeit und zu den individuellen Bedürfnissen dieser Personengruppe treffen.
Zusammenfassend betrachtet gibt es aufgrund der multidisziplinären Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung in Institutionen Unterschiede im theoretischen und fachlichen Wissen der Mitarbeiter. Dennoch umfasst das Aufgabenfeld in der Praxis häufig sowohl den pädagogischen als auch den pflegerischen Verantwortungsbereich. Der Mangel an wissenschaftlichem Wissen kann dazu führen, dass die Lebensqualität der Menschen mit geistiger Behinderung nicht ausreichend berücksichtigt wird.
In dem pädagogisch dominierten Bereich der Behindertenhilfe wurden pflegerische Themenbereiche bisher vernachlässigt. Umgekehrt findet die Thematik „geistige Behinderung“ in der pflegewissenschaftlichen Diskussion ebenso wenig Beachtung. Vor diesem Hintergrund hat die vorliegende Arbeit den Anspruch, sich dem Phänomen der geistigen Behinderung aus pflegewissenschaftlicher Sicht zu nähern. Dabei wird der Versuch unternommen, das Spezifische der pflegerischen Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung zu erfassen.
Zum Verhältnis von Pflege und Pädagogik
Wie oben bereits erläutert, kann die Zusammenarbeit pädagogisch und pflegerisch ausgebildeter Mitarbeiter in Institutionen der Behindertenhilfe einige Problemstellungen beinhalten. Aus diesem Grund erscheint es hier sinnvoll, auf das Verhältnis von Pflege und Pädagogik an sich einzugehen. Mit allen Zusammenhängen und Abgrenzungen lässt sich das Thema im Rahmen dieser Bachelorarbeit nicht ausführlich klären, dennoch wird im Folgenden der Versuch unternommen, einige wichtige Aspekte zu beleuchten.
Die Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung fand lange Zeit in psychiatrischen Anstalten statt und gehörte somit in das medizinische und krankenpflegerische Arbeitsfeld. Im September 1975 erschien ein Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, die sogenannte Psychiatrie-Enquête. Darin wird unter anderem eine Trennung der Versorgung psychisch Kranker und geistig Behinderter gefordert (vgl. Deutscher Bundestag 1975). Der medizinische Ansatz wird zunehmend von der Pädagogik im Sinne von Förderung und Integration abgelöst. Die Behindertenhilfe distanziert sich von der medizinischen Versorgung und somit auch von der Pflege.
Das Streben nach Unabhängigkeit von der Pflege findet sich bis heute auch in der Gesetzgebung wieder. Die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft scheint nur mit größtmöglicher Unabhängigkeit von der Pflege vereinbar und gilt als wichtiges Kriterium für den Erhalt von Leistungen der Eingliederungshilfe: „Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern.
Hierzu gehört vor allem, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen“ (§ 39 Abs. 3 BSHG).
Das Verhältnis von Pflege und Pädagogik wird derzeit vor allem vor dem Hintergrund der finanziellen Leistungen für Menschen mit geistiger Behinderung diskutiert. Menschen mit Behinderung erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe nach SGB XII. Pflegebedürftige Menschen erhalten Leistungen der Pflegeversicherung nach SGB XI. Die Ausgaben für die Eingliederungshilfe sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Berichten des Statistischen Bundesamtes zufolge beliefen sich die Ausgaben für Eingliederungshilfe im Jahr 2007 in Institutionen pro Empfänger auf rund 20 080 Euro (vgl. Statistisches Bundesamt 2007). Im Sinne finanzieller Einsparungen sind somit die Kostenträger bestrebt, die Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung, die auf pflegerische Unterstützung angewiesen sind, in Pflegeeinrichtungen zu verlagern, wo ausschließlich Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch genommen werden können. Die angespannte finanzielle Lage der Sozialleistungsträger spiegelt sich in dem öffentlichen Diskurs um die Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung wider. Dabei wird die Trennung von Eingliederungsmaßnahmen und Leistungen der Pflege fokussiert. Dies hat ebenfalls eine Spaltung der beiden an der Begleitung des Menschen mit geistiger Behinderung beteiligten Disziplinen zur Folge: Pflege und Pädagogik.
Wie bereits erörtert, stehen in der Begriffsdefinition von Pflege als Antwort auf Pflegebedürftigkeit die körperbezogenen Aspekte im Vordergrund. Dies hat eine Reduktion der Disziplin auf körperliche Verrichtungen zur Folge. Die Pädagogik distanziert sich von diesem Aufgabenfeld. Sie sieht „spezielle Erziehungsbedürfnisse“ als ihren Auftrag (vgl. Speck 1993). Dabei wird pädagogische Arbeit nur dort möglich sein, wo auch die körperlichen Bedürfnisse befriedigt sind. So wird beispielsweise der Mensch mit einer Hörund Sprachbehinderung keine neue Gebärde lernen, wenn er gerade Hunger hat oder zur Toilette muss. Somit kann „Pflege als Voraussetzung von Pädagogik“ gesehen werden (vgl. Kane & Klauß 2003, S. 49).
Wie bereits erwähnt, wird Pflege häufig ausschließlich in Verbindung mit der Ausführung körperlicher Verrichtungen gebracht. Dabei umfasst das professionelle Pflegeverständnis ebenso Maßnahmen der „Förderung der Gesundheit“ und „Verhütung von Krankheiten“ (International Council of Nurses ICN). Somit gehören Beratung und Anleitung ebenso zu pflegerischen Aufgaben wie Erziehung zum gesundheitsfördernden Verhalten. Dabei spielt Pädagogik als eine Bezugswissenschaft der Pflege eine wesentliche Rolle.
Wie bereits aufgeführt, macht die Praxis in Einrichtungen der Behindertenhilfe deutlich, dass sich bei der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung die Aufgaben von Pflege und Pädagogik nicht trennen lassen, sie sind vielmehr eng miteinander verknüpft. Die Diskussion um die Trennung von Eingliederungsmaßnahmen und Leistungen der Pflege muss auch dann kritisch hinterfragt werden, wenn sie ausschließlich aus wirtschaftlichem Interesse und nicht vor dem Hintergrund der bestmöglichen Versorgung für den Menschen mit Behinderung geführt wird. „Pflege und Pädagogik stehen in einer komplexen Beziehung zueinander“ (Kane & Klauß 2003, S. 49). Dieser Zusammenhang der beiden Disziplinen sollte sich mit dem Ziel der größtmöglichen Lebensqualität in der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung in Form einer erfolgreichen multidisziplinären Arbeit widerspiegeln.
Spezifische Aspekte der Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, einige wesentliche Aspekte der Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung darzustellen. Bis auf eine Arbeit von Meyer, auf die auch Kane & Klaus in ihren Ausführungen hinweisen, liegt der Autorin keine Literatur vor, die sich explizit der Thematik aus der pflegerischen und pflegewissenschaftlichen Sicht widmet. Darüber hinaus hat das vorangegangene Kapitel deutlich gemacht, dass Pflege in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung im engen Verhältnis mit der Pädagogik steht. Viele Aspekte überschneiden sich beziehungsweise können für beide Disziplinen geltend gemacht werden. Vor diesem Hintergrund werden hier die spezifischen Aspekte der Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung aus den Ansätzen ihrer Bezugswissenschaft, der Pädagogik, abgeleitet.
Als Grundmaxime im Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung gilt das Normalisierungsprinzip.
Bank-Mikkelsen und Nirje entwickelten in den 1970er-Jahren ein „umfassendes normatives Orientierungsprinzip für die soziale und pädagogische Gestaltung humaner Lebensbedingungen für Menschen mit geistigen Behinderungen“ (Speck 1993, S. 162). Demnach soll das Leben erwachsener Menschen mit geistiger Behinderung „so normal, wie möglich gestaltet werden“ (Thimm 2005). Die Pflegenden spielen bei der Bewältigung und Gestaltung der täglichen Aktivitäten eine erhebliche Rolle und stehen als Bezugspersonen für den betroffenen Personenkreis in besonderer Verantwortung. Um geeignete Orientierungshilfen anbieten zu können, gilt es zunächst die „Bedürfnisse“ des Einzelnen „zu erkennen und zu respektieren“ (vgl. Meyer 1997). Bei der Durchführung der Pflege sollen die Pflegenden „nur so wenig wie möglich in den persönlichen Lebensstil“ der Pflegeempfänger eingreifen (vgl. Arets & Obex & Vaessen & Wagner 2000).
Im Zusammenhang mit dem Normalisierungsprinzip findet in der Behindertenhilfe seit Jahren ein Paradigmenwechsel statt: weg von der Bevormundung von Menschen mit geistiger Behinderung durch andere, hin zum Empowerment (vgl. Theunissen 2007). Im Mittelpunkt stehen Teilhabe und Selbstbestimmung. Teilhabe umfasst die Gleichberechtigung am Leben in der Gesellschaft und im Arbeitsleben (vgl. Bundesministerium für Justiz 2001). Die Aufgabe der Pflege ist es, diese Aspekte zu fördern. Darüber hinaus bedeutet es, dass der Mensch mit geistiger Behinderung ein gleichberechtigter Partner im Pflegeprozess ist. Er ist Kunde, der seine Wünsche und Forderungen stellt. Diese Entwicklung von der Fürsorge zur Selbstbestimmung bringt auch eine Veränderung im Rollenverständnis der Pflegenden mit sich. Sie werden nun zum „Dienstleister im Auftrag des zu Pflegenden“ (vgl. Rothe & Süß 2000, S. 519). Ihre Aufgabe richtet sich nicht nur nach der vorhandenen Pflegebedürftigkeit des Menschen mit geistiger Behinderung, sondern auch nach seinen individuellen Wünschen und Bedürfnissen.
Eine besondere Rolle in der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung spielt die „Beziehung“. Die Beziehung ist eine Voraussetzung für das pflegerische Handeln. Pflege kann nur dann gewährleistet werden, wenn zwischen dem Pflegeempfänger und der Pflegekraft eine dynamische Beziehung entsteht (vgl. Peplau 1997). Diese Beziehung soll „primär auf Förderung und Begleitung ausgerichtet sein“ (Rothe & Süß 2000, S. 518).
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1 G-DRGs (German Diagnosis Related Groups) sind ein Patientenklassifikationssystem, mit dem einzelne stationäre Behandlungsfälle anhand bestimmter Kriterien (Diagnosen, Schweregrad, Alter usw.) zu Fallgruppen zusammengefasst werden (Wienand, M. 2003).
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- Patricia Huß (Author), 2009, Pflegebedürftigkeit und individuelle Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung in der Pflege, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/145271