Carlo Ginzburg, zu dem Zeitpunkt zwischen Geschichte und Anthropologie stehend, gehört zu einer Gruppe von Historikern, die in den späten 1970ern ebenfalls die herrschende Geschichtsschreibung hinterfragte und herausforderte. Nicht umsonst nimmt er in der Einleitung zu seiner bekannten Fallstudie über einen friaulischen Müller Bezug auf Brechts lesenden Arbeiter. Der Protagonist seines Pionierwerks der Mikrogeschichte „Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600“, das 1976 in der Originalfassung erschien, ist zwar kein lesender Arbeiter, dafür aber ein lesender Müller. Die Inquisitionsakten, auf denen die Studie beruht, sind 1990 erstmals in einer Edition herausgegeben von Andrea del Col erschienen.
Die Vertreter der aufkommenden Mikrogeschichte wandten sich sowohl gegen den klassischen Historismus, als auch gegen die Sozialgeschichtsschreibung sowie Metanarrative wie dem Marxismus. Sie setzten sich ebenfalls mit dem Postmodernismus kritisch auseinander. Ihren Vertretern und Befürwortern zufolge bietet die Mikrogeschichte einen Ausweg aus dem Konflikt, den Brecht in seinem Gedicht aufmacht. Um Biographien über die Männer im Zentrum der Macht zu schreiben, bräuchte es keine Mikrogeschichte, denn diese standen seit jeher im Fokus der Historiographie, sogar vor der Geburt der modernen Geschichtsschreibung. Tatsächlich hat die Mikrogeschichte das Potenzial, die von Brechts "lesendem Arbeiter" aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Mit Domenico Scandella, auch genannt Menocchio, schaffte es Ginzburg einen lesenden Müller in den Mittelpunkt seiner historischen Arbeit zu setzen. Mit seinem Werk hat nicht nur der auf den ersten Blick durchaus seltsame Müller eine Stimme bekommen, sondern auch die dahinterliegende bäuerliche Unterschichtenkultur.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Die Mikrogeschichte als Ansatz
- Entstehung der Mikrogeschichte
- Methodisches Vorgehen
- Verkleinerung des Beobachtungsmaßstabes
- Das Oxymoron, „exceptional normal“
- Die Verbindung von Mikro- und Makroperspektive
- Inquisitionsakten als Quellen
- Zwischenfazit
- Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“
- Menocchios Weltbild
- Ginzburgs Müller aus Friaul
- Vorstellungen von Gott
- Die Gleichheit der Religionen
- Die Entstehung der Welt: Menocchios Kosmogonie
- Menocchio der Sozialrevolutionär
- Menocchio als „exceptional normal“
- Ginzburg auf Spurensuche: Menocchio und die Bäuerliche Kultur
- Schlussfazit
- Wissenschaftlicher Apparat
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Mikrogeschichte als methodischem Ansatz in der Geschichtswissenschaft und analysiert anhand von Carlo Ginzburgs Werk „Der Käse und die Würmer“ deren Anwendung in der Praxis. Die Arbeit verfolgt das Ziel, die Entstehung, die Methodik und den Quellenwert der Mikrogeschichte zu beleuchten, um anschließend diese Erkenntnisse mit Ginzburgs Pionierstudie über den friaulischen Müller Menocchio zu verknüpfen.
- Entstehung und Entwicklung der Mikrogeschichte als Reaktion auf die klassische Sozialgeschichtsschreibung
- Die Methodik der Mikrogeschichte, insbesondere die Verkleinerung des Beobachtungsmaßstabs und die Analyse von Einzelfällen
- Die Bedeutung von Inquisitionsakten als Quelle für die Mikrogeschichte
- Die Analyse von Menocchios Weltbild anhand der Inquisitionsakten und seine Einordnung als „exceptional normal“
- Die Rekonstruktion der bäuerlichen Kultur der Unterschichten anhand der Mikrogeschichte
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema der Mikrogeschichte ein und stellt die zentrale Frage nach dem Beitrag „einfacher Leute“ zur Geschichte in den Mittelpunkt. Sie verweist dabei auf Bertolt Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ und setzt Carlo Ginzburgs Werk „Der Käse und die Würmer“ in den Kontext der aufkommenden Mikrogeschichte.
Kapitel 2 befasst sich mit der Mikrogeschichte als methodischem Ansatz. Es zeichnet die Entstehung der Mikrogeschichte als Reaktion auf die klassische Sozialgeschichtsschreibung nach und skizziert die wichtigsten Punkte der mikrohistorischen Methodik, darunter die Verkleinerung des Beobachtungsmaßstabs und die Verbindung von Mikro- und Makroperspektive. Zudem wird der Quellenwert von Inquisitionsakten beleuchtet.
Kapitel 3 analysiert Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ im Kontext der Mikrogeschichte. Es beschreibt Menocchios Weltbild anhand von Quellenstellen aus den Inquisitionsakten und untersucht, inwiefern Menocchio das Konzept des „exceptional normal“ verkörpert. Abschließend betrachtet das Kapitel Ginzburgs Vorgehen bei der Verbindung von Mikro- und Makroperspektive, um aus Menocchios Gedanken eine verloren gegangene bäuerliche Kultur der Unterschichten sichtbar zu machen.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den Schlüsselbegriffen der Mikrogeschichte, darunter: „exceptional normal“, Inquisitionsakten, Quellenkritik, Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Historische Anthropologie, Weltbild, Kosmogonie, bäuerliche Kultur, Unterschichten, Menocchio, Carlo Ginzburg, und „Der Käse und die Würmer“.
- Quote paper
- Tom Kühn (Author), 2022, Die Mikrogeschichte und ihre Methode am Beispiel Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1393172