Im Jahr 1888, nicht lange vor Sigmund Freuds Schriften zur Psychoanalyse, veröffentlichte Gerhart Hauptmann seine „novellistische Studie“ Bahnwärter Thiel. Trotz vieler Naturschilderungen schuf er damit nicht etwa ein „freundliches Stillleben“, sondern das „beklemmende Psychogramm eines gepeinigten Menschen“. – Nicht ohne Grund wird daher von der Erzählung gesagt, sie markiere den Übergang zur Moderne.
Bereits im Titel deutet sich an, wie in der Person „Bahnwärter Thiel“ Beruf und Name verschmelzen, zu einem Konzept des Seins werden. Entfremdung und Ich-Dissoziation des ‚Helden’, die so typisch sind für die Literatur um 1900 und mehr noch für die des Expressionismus, werden thematisiert.
Nachdem die erste Frau des Bahnwärters, Minna, bei der Geburt des gemeinsamen Sohnes Tobias(chen) verstorben ist, heiratet Thiel die Kuhmagd Lene. Nicht nur äußerlich bildet diese das komplette Gegenstück zur ersten. – Die Beziehung Thiels zu den beiden Frauenfiguren, zur toten ‚Femme fragile’ und zur lebenden ‚Femme fatale’, ist für den schicksalhaften Ausgang der Erzählung fortan von zentraler Bedeutung. Denn die Frauen wurden vom Autor als Typen konzipiert, die innerhalb der Erzählung bestimmte Funktionen ausüben. Um ihnen gleichermaßen einen Platz in seinem Leben zu willigen, schafft sich Bahnwärter Thiel zwei ‚Räume’. – Wie es von diesen Grundvoraussetzungen ausgehend schließlich zur Katastrophe – dem Wahnsinn und Morden Thiels – kommt, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.
Dabei steht im Vordergrund der Betrachtung die Unabwendbarkeit des Unglücks. – Auch die Frage, ob der Schluss eher überraschend kommt oder vielmehr als Konsequenz eines schleichenden Prozesses angesehen werden sollte, ist diesbezüglich von Bedeutung.
Dazu wird zunächst die Charakterisierung des Bahnwärters untersucht – besonders, ob in dieser womöglich bereits Eigenschaften zu erkennen sind, die Thiel für den späteren Wahnsinn prädestinieren. Anschließend wird dessen Beziehung zu den beiden Frauenfiguren näher beleuchtet, bevor dann Überlegungen zum Hergang der Katastrophe erfolgen. Zum Schluss wird die Schlüsselfunktion des Kindes Tobiaschen innerhalb der Erzählung dargelegt.
Doch zuerst lohnt es sich, einen Blick auf die besondere Rolle des Erzählers im Bahnwärter Thiel zu werfen, da diese für die Leserwahrnehmung sehr wichtig ist.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Die Rolle des Erzählers für die Leserwahrnehmung von Figuren und Konflikten
- Grundlegendes zur Charakterisierung des Bahnwärter Thiel
- Bahnwärter Thiels im Dreiecksverhältnis zwischen Minna und Lene
- Des Bahnwärters erste Frau Minna
- Des Bahnwärters zweite Frau Lene
- Veränderungen im Leben Thiels und deren Konsequenzen
- Die Unabwendbarkeit des Wahnsinns und die daraus resultierende Katastrophe
- Thiel und die gewaltsame Konfrontation seiner getrennten Lebenssphären
- Chronologie des Wahnsinns
- Die Schlüsselrolle des Kindes Tobiaschen
- Fazit
- Literatur
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Hausarbeit analysiert Gerhart Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“ und untersucht die Rolle des Erzählers, die Charakterisierung des Protagonisten sowie die Bedeutung der Beziehungen zu den beiden Frauenfiguren. Die Arbeit beleuchtet die Entwicklung des Wahnsinns und die daraus resultierende Katastrophe, wobei die Schlüsselfunktion des Kindes Tobiaschen im Fokus steht.
- Die Rolle des Erzählers in der Gestaltung der Leserwahrnehmung
- Die Charakterisierung des Bahnwärter Thiel und seine Prädestination zum Wahnsinn
- Die Beziehung Thiels zu seinen beiden Frauen und deren Einfluss auf sein Leben
- Die Unabwendbarkeit des Wahnsinns und die Folgen für Thiel
- Die Bedeutung des Kindes Tobiaschen für die Erzählung
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die „novellistische Studie“ „Bahnwärter Thiel“ von Gerhart Hauptmann vor und beleuchtet die Bedeutung des Werkes im Kontext der Literatur um 1900. Die Arbeit fokussiert auf die Entfremdung und Ich-Dissoziation des Protagonisten, die durch die Beziehung zu den beiden Frauenfiguren und die daraus resultierende Katastrophe des Wahnsinns und Mordes geprägt ist.
Das zweite Kapitel analysiert die Rolle des Erzählers, der durch seine auktoriale Perspektive die Leserwahrnehmung lenkt und die Figuren sowie Konflikte gezielt inszeniert. Der Erzähler nimmt verschiedene Perspektiven ein, wobei der Fokus auf Bahnwärter Thiel liegt. Er vermittelt eine scheinbar neutrale Außensicht, die jedoch durch die Manipulation der Informationen und die Vermittlung von falschen Fährten geprägt ist. Die Darstellung der Frauenfiguren wird ebenfalls durch den Erzähler beeinflusst, da Minna bereits tot ist, als sie in der Erzählung relevant wird, und Lene nur selten selbst zu Wort kommt.
Das dritte Kapitel befasst sich mit der Charakterisierung des Bahnwärter Thiel. Der Titel „Bahnwärter Thiel“ verschmilzt Beruf und Namen und verdeutlicht, wie Thiels Leben durch seinen Beruf definiert ist. Seine Arbeitsmoral und sein regelmäßiger Kirchgang zeigen seine Pflichterfüllung und seinen Wunsch nach einem Platz in der Gesellschaft. Die Arbeit untersucht, ob in Thiels Charakter bereits Eigenschaften zu erkennen sind, die ihn für den späteren Wahnsinn prädestinieren.
Das vierte Kapitel beleuchtet die Beziehung Thiels zu seinen beiden Frauen, Minna und Lene. Die Arbeit analysiert die Rolle der Frauenfiguren als „Femme fragile“ und „Femme fatale“ und untersucht, wie diese Beziehung die Entwicklung des Wahnsinns beeinflusst.
Das fünfte Kapitel befasst sich mit der Unabwendbarkeit des Wahnsinns und der daraus resultierenden Katastrophe. Die Arbeit untersucht, wie die Konfrontation der getrennten Lebenssphären Thiels zum Wahnsinn führt und die Chronologie des Wahnsinns analysiert.
Das sechste Kapitel beleuchtet die Schlüsselfunktion des Kindes Tobiaschen innerhalb der Erzählung. Die Arbeit untersucht, wie das Kind die Beziehung Thiels zu den Frauenfiguren beeinflusst und welche Rolle es in der Entwicklung des Wahnsinns spielt.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen Gerhart Hauptmann, Bahnwärter Thiel, Erzähler, Leserwahrnehmung, Charakterisierung, Beziehung, Frauenfiguren, Wahnsinn, Katastrophe, Tobiaschen, Entfremdung, Ich-Dissoziation, Moderne, Literatur um 1900.
- Quote paper
- Anonym (Author), 2005, Thiel – Ein Leben in geordneten Bahnen, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/132423