Bei der Entfremdung werden organische Beziehungen aufgehoben oder verkehrt, bei der Verdinglichung kann alles und jeder zum Ding, zum Objekt, zum Fetisch werden. Beide Begriffe gehen Hand in Hand. Diese Abhandlung soll in die Begriffe der Entfremdung und vor allem der Verdinglichung einführen, welche wiederum Marx salonfähig gemacht und Lukács genauer definiert hat.
Die Abhandlung beginnt bei Marx und geht über Lukács, Horkheimer, Habermas, Honneth und Nussbaum hin zu Böhme.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Marx und Lukács: Die entfremdete Arbeit
3. Marx und Lukács: Verdinglichte Beziehungen
4. Horkheimer/Adorno: Die rationale Kultur
5. Habermas: Rationalität bei Weber, Lukács und Horkheimer
6. Honneth: Bedingungen und drei Formen der Verdinglichung
7. Nussbaum: Verdinglichte Sexualität als etwas Schönes
8. Böhme: Der expandierende Fetischismus
9. Schluss
10. Literatur
1. Einleitung
Bei der Entfremdung werden organische Beziehungen aufgehoben oder verkehrt, bei der Verdinglichung kann alles und jeder zum Ding, zum Objekt, zum Fetisch werden. Beide Begriffe gehen Hand in Hand. Diese Abhandlung soll in die Begriffe der Entfremdung und vor allem der Verdinglichung einführen, welche wiederum Marx salonfähig gemacht und Lukács genauer definiert hat[1]. Besonders der Verdinglichung ist noch nicht soviel Aufmerksamkeit zugekommen, wie man hätte vermuten können, doch gibt es einige aktuelle Studien dazu.
In dieser Abhandlung wollen wir zunächst einen allgemeinen Einstieg geben durch die ursprünglichen Grundthesen bei Marx und Lukács. Über Horkheimer/Adorno und Habermas geht es dann zu aktuelleren Positionen von Honneth, Nussbaum und Böhme.
2. Marx und Lukács: Die entfremdete Arbeit
In seinem ersten (zu Lebzeiten unveröffentlichten) Werk, den ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844, führte Marx (1818 – 1883) das erste Mal seine Idee der entfremdeten Arbeit vor:[2]
Ihm zufolge würde die Gesellschaft in zwei Klassen zerfallen: Eigentümer und eigentumslose Arbeiter. Klassen sind bereits eine Form von Entfremdung. Diese ensteht durch das Geldsystem: Eigentum, Habsucht, Konten, Arbeitsteilung. Der Mensch wird entwertet. Das Produkt wird dem Arbeiter fremd und von ihm unabhängig. Seine Arbeit wird ein Gegenstand, den er aber nicht besitzen kann, was zur Entfremdung führt. Je mehr er produziert, desto weniger kann er besitzen, desto stärker wird die Entfremdung. Dies aufzuheben wäre die Natur nötig, welche Mittel zur Arbeit und zum Leben ist, sich aber nun dem Arbeiter entzieht. Je mehr in den Gegenstand von sich selber steckt, desto mehr verliert er (logischerweise). Die Tätigkeit der Produktion wird dem Arbeiter fremd. Warum? Weil die Arbeit nicht mehr Teil seines eigenes Wesens ist. Sie ist ein Zwang, ein Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen aber kein Bedürfnis mehr. Es kommt dazu, dass der Mensch sich nur noch als Tier frei fühlt, als Mensch aber wie ein Tier. Das Leben ist ständige Tätigkeit, doch durch die Entfremdung wird ihm das Leben ein Leid. Da der Mensch ein Gattungswesen ist, das von der Natur lebt und auch Natur ist, wird es, wenn es sich von der Natur und seiner Tätigkeit entfremdet, auch von seiner Gattung entfremdet. Letztlich dann entfremdet sich der Mensch auch von sich selbst. Dies alles ist also die Entfremdung bei Marx.
Georg Lukács (1885 – 1971), einer der größten und bekanntesten Marxisten, untersuchte den Begriff der Entfremdung schließlich in seinem Werk 'Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie'. Wie es der Titel sagt, bezieht er sich vor allem auf Hegel, aber auch auf bekannte Ökonomen.
Nach Ricardo würden Individuen geopfert werden, damit sich der menschliche Reichtum entwickeln kann hin zu einem Ziel, damit die Gattung sich entwickeln könnte, was gleichbedeutend wäre mit einer Entwicklung der Individualität.[3] Nach Hegel würde die bürgerliche Gesellschaft erst die Individualität der Menschen entwickeln können. Ein notwendiges Resultat ist dabei die Selbstentäußerung, bei welcher der Mensch degradiert wird. Der Grund dafür sind die kapitalistische Arbeitsteilung sowie ihre kulturellen Folgen. Der Mensch wird vernichtet durch die Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte. Die menschliche Gattung als Ganzes entwickelt sich jedoch durch die Arbeit weiter. Nicht ohne Grund konnten antike Kulturen nur durch Sklaven existieren.[4] Ferguson sah es ähnlich: Die menschlichen Fähigkeiten würden erniedrigt werden, die Allgemeinheit sich aber entwickeln.[5] Nach Hegel wäre die moderne, höhere Individualität also nur durch diesen Prozess möglich. Als Nachteil würde dabei aber Niedriges gebildet werden.[6] Marx nun nannte dies aber die Unmenschlichkeit und Kulturlosigkeit des Kapitalismus.[7] Hegel nannte es lieber ein Tragödie; ein Kampf zwischen zwei Extremen: Erniedrigung des Individuums und Entwicklung der Allgemeinheit. Dabei würde aber auch die Gefahr der Auflösung der Gesellschaft bestehen, sollte die Waage zu sehr in eine Richtung tendieren. Deshalb dürfe die Natur nicht vergewaltigt, sondern müsse aufgenommen werden. Seine Illusion hierbei war, dass der Staat alles regelt und mildert.[8] Marx jedoch sah in seiner Gesellschaft bloß einen steten Kampf ums Überleben.[9]
Nun wissen wir also, was laut Marx eine entfremdete Arbeit ist und durch Lukács, warum sie entsteht und (vielleicht) notwendig ist.
3. Marx und Lukács: Verdinglichte Beziehungen
1867 widmete Marx in seinem Hauptwerk 'Das Kapital' ein Kapitel der Ware und warum sie zum Fetisch werden würde. Damit übertrug er den ethnologischen Begriff des Fetischs auf die Ökonomie.
Zunächst erklärt er, dass die Ware als Gebrauchswert entweder vorhandene Bedürfnisse befriedigt oder neue weckt. Als Form hingegen wird sie zur gesellschaftlichen Form, zur gegenständlichen Form der Arbeit. Fetischismus nun ist nach Marx ein gesellschaftliches Verhältnis des Menschen: die Produkte werden 'belebt', eigenständige, im Verhältnis untereinander und zum Menschen stehende Gestalten.[10] Die Ware ist eigentlich ein Gebrauchsgegenstand, der von unabhängiger Privatarbeit erstellt wurde. Das Produkt erhält im Kapitalismus aber zwei Seiten: Nutzen für andere, Wert für den Produzenten. Dadurch, dass Produkte gleichgesetzt werden, wird auch die menschliche Arbeit gleichgesetzt. Da der Wert eines Produktes aber unklar ist, versucht der Mensch ihn zu bestimmten. Dies geschieht durch die Anrechnung der benötigten Arbeitszeit.[11] Der Produzent fängt an sein Erzeugnis als Ware und nicht mehr als etwas besonders zu sehen. Über den Austausch von Waren werden auch die Menschen Tauschwerte. So nennt Marx die Ökonomie den Fetischismus des Monetersystems.[12]
1923 vollendete Lukács sein Buch 'Geschichte und Klassenbewusstsein', ein Klassiker der marxistischen Literatur, in der er Marxens Beobachtungen zum Begriff der Verdinglichung ausführt. Folgend neben der Luchterhand-Paginierung auch die originale Malik-Paginierung.
Lukács geht von Marxens Endpunkt aus, dass die Beziehungen zwischen Personen einen Charakter der Dinghaftigkeit erhalten und damit ein Warenfetischismus entsteht, ein Problem des Kapitalismus. Im Kontakt einer Gemeinschaft würde dieser Tauschhandel bald ins Innere umschlagen, alle Lebensäußerungen durchdringen und die Warenform so zur Form der Gesellschaft machen.[13] Die Tätigkeit des Menschen wird ihm als etwas Objektives und Fremdes gegenübergestellt. Objektiv bedeutet, dass die Welt aus fertigen Dingen besteht. Subjektiv gesehen wird die Tätigkeit des Menschen zur Ware. Objektiv ist die Warenform formal gleich und abstrakt, subjektiv wird sie ein reales Prinzip des Produktionprozesses. Während die Gesellschaft zunehmend rationalisiert wird[14], werden die individuellen Eigenschaften des Menschen ausgeschaltet. Ein objektiv berechenbares Arbeitspensum steht dem Arbeiter als etwas 'fertiges' gegenüber.[15] Als Prinzip hinter allem vermutet Lukács eine rationale Kalkulation des Kapitalismus, die alles in Einheiten zerlegt und diese Teile spezialisiert. So wird das Subjekt 'zerrissen' und bekommt seine menschlichen Eigenschaften präsentiert, die Fehlerquellen sein können.[16] Die Leistungen des Einzelnen werden also objektiviert, abgetrennt, verdinglicht, was auch den natürlichen gemeinschaftlichen Boden zerreist. Allerdings ist dies alles nur möglich bei einem freien Arbeiter, der die ihm 'zugehörige' Arbeitskraft 'besitzt' und sie 'verkaufen' kann. Dadurch wird auch jeder ersetzbar.[17]
Die ursprüngliche 'Dinghaftigkeit' eines Gegenstandes wird verdeckt durch seine neue, rationelle Dinghaftigkeit. Der Warencharakter entstellt den Gegenstand in seiner Gegenständlichkeit. Diese Verdinglichungsstruktur würde immer weiter ins Menschen-Bewusstsein verankert werden. Den Kapitalfetisch bezeichnet Lukács als den Zins, der wichtiger sei als das ursprüngliche Kapital.[18] Wie Weber schon feststellte, so Lukács, beruht der kapitalistische Betrieb auf Kalkulation, auf festen Normen. Alles wird systematisiert, die Justiz wird ein auf alle Fälle vorbereitetes System und damit fix und starr. Gleiches gilt für die Bürokratie, die geistlos wird und lernt sich unterzuordnen.[19] Immerhin aber, so Lukács in gespieltem Zynismus, mache der Kapitalismus alle gleich – nämlich dadurch, dass alle verdinglicht und in Klassen eingeteilt seien.[20]
Die Verdinglichung nach Lukács in einem Weberschen rationalisierten Staat lässt also jeden und seine Teile zu austauschbaren Dingen werden.
4. Horkheimer/Adorno: Die rationale Kultur
Was Lukács begann (der austauschbare Mensch im rationalisierten Staat) führen Horkheimer und Adorno in ihrer Kulturkritik weiter, ohne sich jedoch auf ihn zu berufen. In ihrem Klassiker, der 'Dialektik der Aufklärung' von 1944 sahen sie bereits die Gefahren der modernen Medien'kultur'.[21]
Sie bemängeln, dass alles ähnlich, alles gleich wird: Film, Radio und so weiter. Wohnungen werden zum Einweggut, Individuen gleich. Überall gibt es Standardgüter zu kaufen, da es zuviele Kunden gibt. Angeblich entstanden sie aus Bedürfnissen, doch sie meinen, sie dienen zu Manipulation. Das Talent des Individuums gehört dem Betrieb und wird fachmännisch ausgewählt. Alles wird angeglichen, sogar der Konsument: Klassifikation und Organisation beseitigen Abweichungen. Konkurrenz und Auswahl sind nur Schein. Produkte lassen die Fantasie verkümmern und verbieten ein Denken: Der Konsument wird 'erzogen'.[22] Der neue herrschende Stil ist Barbarei und keine Kultur. Das Allgemeine und das Besondere haben keine Unterschiede mehr. Bereits beim Denken werden 'Dinge' 'verdinglicht' und die Kultur wird von oben vorgeschrieben.[23]
[...]
[1] Allerdings hatten auch schon Luther, Rousseau, Schelling, Hegel, Humboldt und andere ähnliche Konzeptionen benutzt.
[2] Vgl. Marx, Karl: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. Die entfremdete Arbeit. MEW EB I, S. 510-519.
[3] Vgl. Lukács, Georg: Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie. Band 2. Frankfurt: Suhrkamp 1973, S. 621f.
[4] Vgl. ebd., S. 625ff.
[5] Vgl. ebd., S. 632.
[6] Vgl. ebd., S. 635.
[7] Vgl. ebd., S. 637.
[8] Vgl. ebd., S. 639ff.
[9] Vgl. ebd., S. 650.
[10] Vgl. Marx, Karl: Das Kapital I. MEW 23, S. 85ff.
[11] Vgl. ebd., S. 87ff.
[12] Vgl. ebd., S. 93ff.
[13] Vgl. Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik. Darmstadt: Luchterhand 1988, 10. Auflage (nach: Berlin: Malik 1923), S. 170ff (94ff).
[14] Vgl. hierzu auch Weber.
[15] Vgl. Lukács 1988, S. 175ff. (1923: 97ff.)
[16] Vgl. ebd., S. 177f. (99f.)
[17] Vgl. ebd., S. 180ff. (101ff.)
[18] Vgl. ebd., S. 183ff. (104ff.)
[19] Vgl. ebd., S. 188ff. (107ff.)
[20] Vgl. ebd., S. 193 (111).
[21] Vielleicht sollte man erwähnen, dass das Buch im amerikanischen Exil entstand und sich, abgesehen von einem Kapitel, auch eher diese 'Kultur' bezog, welche aber zur westlichen Kultur schlechthin wurde.
[22] Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt: Suhrkamp 1987, S. 146ff.
[23] Vgl. ebd., S. 156ff.
- Quote paper
- Andre Schuchardt (Author), 2009, Entfremdung und Verdinglichung bei Marx und Lukács, Horkheimer/Adorno und Habermas sowie Honneth, Nussbaum und Böhme, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/131184