Diese Arbeit untersucht spieltheoretische Modellierungen des eurasischen Gasmarktes, sodass das Ausmaß einer möglichen geopolitischen Zielsetzung Russlands und Deutschlands herausdestilliert werden kann. Dabei ermöglichen bestimmte Vereinfachungen der Realität, ein komplexes Gefüge aus wirtschaftlichen und politischen Interessen in mathematischen Termini auszudrücken. Die Forschungsfragen lauten: Wie viel Geopolitik steckt im Erdgashandel und insbesondere, welche geopolitische Bedeutung besitzen die Ostseepipelines Nordstream 1 & 2?
Der Aufbau der Arbeit ist wie folgt: Zunächst wird die Wirtschaft und Geopolitik des Erdgastrassennetzwerks skizziert, wie sich einzelne Länder verschiedene Rollen auf dem Gasmarkt mit dem angebundenen Trassennetzwerk zu eigen machen und inwiefern der Gasmarkt abseits wirtschaftlicher Notwendigkeit auch geopolitische Interessenkämpfe impliziert. Daraufhin wird die theoretische Grundlage der Arbeit mit spieltheoretischen Konzepten gelegt, die allesamt für das Verständnis im weiteren Fortgang der Arbeit von Nöten sind.
Im Hauptteil werden einige Forschungsarbeiten zur Geopolitik des Gasmarktes vorgestellt; dabei sind die wesentlichen Akteure Russland, Deutschland und die Ukraine. Die Arbeit schließt mit einem Fazit ab, in dem die Kernbefunde der Forschung zur vorgelegten Fragestellung nochmals bündig dargeboten werden. Außerdem gestattet sich der Autor, Impulse für weitere Recherche,- und Forschungsarbeiten zu geben.
Gliederung
1. Einleitung
2. Problemstellung: die Wirtschaft und Geopolitik des Erdgastrassennetzwerks
2.1 Spieltheoretische Fachtermini
a. Kooperative Spieltheorie
b. Shapley Value
3. Spieltheoretische Modellierungen des eurasischen Gasmarktes
3.1 F. Hubert & S. Ikonnikova (2011)
3.2 H. Franz & O. Coblani (2015)
3.3 Balazs R. Sziklai et. al (2020)
3.4 Zusätzliche Literatur
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
6. Internetquellen
1. Einleitung
Aus Jeronim Perovics (2013) Ausarbeitung „Russlands Aufstieg zur Energiegroßmacht“ werden mehrere Beobachtungen ersichtlich: Zunächst ist der rezente wirtschaftliche Aufstieg Russlands direkt an die Extraktion und dem Export des fossilen Brennstoffes Erdgas gebunden; weiters ist der wirtschaftliche Aufstieg einer gesamten Nation durch den Energiehunger anderer Nationen gespeist worden; und zuletzt stellen die Erdgastrassen - die unterdessen weite Teile Europas durchziehen und größtenteils in Russland ihren Ursprung haben - weitaus mehr dar, als die einfache Versorgung anderer Nationen mit lebensnotwendigen Brennstoffen; vielmehr durchzieht die wirtschaftliche Verflechtung Europas mit Russland über die Ferngasleitungen die Innen,- und Außenpolitik aller beteiligten Nationen. Es ist geradezu bemerkenswert, zu welchem Ausmaß das Erdgastrassennetzwerk in Eurasien inzwischen angewachsen ist. Nadym liegt im hohen Norden Russlands und ist sowohl mit 11% des in Russland geförderten Erdgases eines der Gaszentren Russlands als auch der Startpunkt einer Pipeline, die über die Gasleistungen Punga und Ukhta entweder in die Pipelines Jamal-Europe oder Brotherhood mündet; von da aus werden über weitere Verzweigungen die Nord Stream Pipeline von Wyborg aus erreicht und die Jamal-Pipeline, die sich über Polen nach Deutschland zieht. Zwischen Nadym und Berlin liegen ca. 3500 km und ein inzwischen dichtes Netzwerk an Erdgastrassen.
Aktuell steht das Trassennetzwerk mit der herannahenden Fertigstellung der Ostseepipeline Nordstream 2 kurz vor einer Erweiterung. Der Beschluss einer weiteren Tiefseerohrleitung entfachte in den Medien sowie in der Forschungslandschaft eine hitzige Debatte hinsichtlich des wirtschaftlichen Nutzens dieser Erdgastrasse. Insbesondere wird vermehrt behauptet, dass Nordstream 2 einen geringeren wirtschaftlichen als geopolitischen Nutzen für die direkt beteiligten Nationen (Russland und Deutschland) innehält. Um dies zu überprüfen, untersucht diese Arbeit spieltheoretische Modellierungen des eurasischen Gasmarktes, sodass das Ausmaß einer möglichen geopolitischen Zielsetzung Russlands und Deutschlands herausdestilliert werden kann. Dabei ermöglichen bestimmte Vereinfachungen der Realität, ein komplexes Gefüge aus wirtschaftlichen und politischen Interessen in mathematischen Termini auszudrücken. Die Forschungsfragen lauten: Wie viel Geopolitik steckt im Erdgashandel und insbesondere, welche geopolitische Bedeutung besitzen die Ostseepipelines Nordstream 1 & 2 ?
Der Aufbau der Arbeit ist wie folgt: zunächst wird in 2. Problemstellung: die Wirtschaft und Geopolitik des Erdgastrassennetzwerks skizziert, wie sich einzelne Länder verschiedene Rollen auf dem Gasmarkt mit dem angebundenen Trassennetzwerk zu eigen machen und inwiefern der Gasmarkt abseits wirtschaftlicher Notwendigkeit auch geopolitische Interessenkämpfe impliziert. Daraufhin wird in 2.1 Spieltheoretische Fachtermini die theoretische Grundlage der Arbeit mit spieltheoretischen Konzepten gelegt, die allesamt für das Verständnis im weiteren Fortgang der Arbeit von Nöten sind. Im Hauptteil 3. Spieltheoretische Modellierungen des eurasischen Gasmarktes werden einige Forschungsarbeiten zur Geopolitik des Gasmarktes vorgestellt; dabei sind die wesentlichen Akteure Russland, Deutschland und die Ukraine. Die Arbeit schließt mit einem Fazit ab, in dem die Kernbefunde der Forschung zur vorgelegten Fragestellung nochmals bündig dargeboten werden. Außerdem gestattet sich der Autor, Impulse für weitere Recherche,- und Forschungsarbeiten zu geben.
2. Problemstellung: die Wirtschaft und Geopolitik des Erdgastrassennetzwerks
Einige eurasische Erdgastrassen bestehen und liefern Erdgas schon seit Jahrzehnten und wurden zu Zeiten der UdSSR verbindend zwischen Russland und seinen Kontinentalnachbarn gelegt. Als die UdSSR zerfiel, erhielt Russland die zentrale Rolle des Erdgasproduzenten und des Distributors, da sich viele Trassen noch immer auf russischem Staatsgebiet befanden. Zeitgleich ist infolge des UdSSR-Zerfalls das Trassennetzwerk an einigen Stellen in dem Sinne gekappt worden, dass nun einige Trassen durch neugegründete unabhängige Staatsgebiete führten. Diese Staaten wurden neben Empfänger,- auch zu Transitländern für russisches Erdgas. Folglich entstand eine wirtschaftliche Abhängigkeit zwischen Ländern wie der Slowakei, Tschechen, Polen, Ukraine und Russland (F. Hubert & S. Ikonnikova (2011), weiter angefacht durch den Energiehunger (west-)europäischer Staaten. Dabei kann jede durchquerte Wirtschaftszone bzw. jedes durchquerte Transitland vom Transit des Gases profitieren, indem spezielle Lieferbedingungen (bspw. Transitgebühren) gefordert werden. Außerdem können Transitländer Druck ausüben, wenn Erdgaspreise von russischen Produzenten über Produktionsanpassungen nach oben oder nach unten getrieben werden. In anderen Worten: auch wenn Russland über gigantische Erdgasfelder verfügt und Gazprom einer von wenigen Anbietern auf dem internationalen Erdgasmarkt ist, kann die Firma seine Marktanteile nicht dahingehend instrumentalisieren, Monopolgewinne abzuschöpfen, solange der Transport notwendigerweise über ein Netzwerk erfolgt, dass, erstens, nicht gänzlich in russischer Hand ist; und, zweitens, von regionalen Interessen (den Transitländern) mitgeformt wird.
Die Slowakei und Tschechen privatisierten damals ihre Trassenanteile, während “Ukraine and Russia, in contrast, failed to find a lasting solution for their gas relationship” (F. Hubert & S. Ikonnikova, 2011, p. 5), “as highlighted by the 2006 and 2009 disruption of gas supplies” (European Policy Strategy Centre, 2016, S.4). F. Hubert & S. Ikonnikova (2011, p. 7) schreiben weiters, dass “the protracted conflict with Ukraine led Russia to search for alternative transit routes since the early nineties.” Am 8. September 2005 entschied sich Gerhard Schröder zur Unterschrift einer bedeutungsschweren Absichtserklärung, der den Bau einer Ostseepipeline beabsichtigte und Deutschland - somit auch Mitteleuropa - und Russland direkt miteinander verbinden und die Erdgasmengen im Transit durch Osteuropa reduzieren würde. Die baltischen Staaten erhoben damals Klagen, da bestehende Erdgasleitungen mit der neugeschaffenen Ostseepipeline konkurrieren müssten und Transitgebühren wegfielen. Weiters sind warnende Stimmen erhoben worden, dass Russlands Gazprom nun mehr Einfluss auf Gaspreise zugesprochen würde, da Transitländer und deren regionaler Einfluss auf die russische Produktion durch die Direktverbindung zwischen Westeuropa und Russland nun wegfielen. Das Projekt wurde dennoch fertiggestellte; vermutlich, weil die wirtschaftlichen und, so ließe sich mutmaßen, geopolitischen Argumente stark genug waren.
Heute, so Walter Kaufmann und Robert Sperrfeld (2021, S. 4), steht “Im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit (...) der Bau der neuen Gaspipeline North Stream 2, die die Verbindung Deutschlands und Russlands im Erdgashandel deutlich intensivieren und die Verfügbarkeit von Gas erhöhen soll.” Gleichwohl heute schon eine infrastrukturelle Überversorgung der Erdgastrassen relativ zur Menge des transportierten Erdgases existiert (European Policy Strategy Centre, 2016); eine “Verringerung der jährlichen Erlöse aus dem Öl- und Gasexport um 47% durch geringere Exportvolumina und sinkende Weltmarktpreise“ (Walter Kaufmann und Robert Sperrfeld, 2021, S. 6) zu erwarten ist; weder das Energieangebot noch die Quellen des europäischen Energiemix' durch den Bau einer weiteren Pipeline diversifiziert würde (Balazs R. Sziklai et. al, 2020); und die Ukraine geschätzt $2 Milliarden durch verlorengegangene Transitgebühren an Verlusten zu verzeichnen hätte (Fischer, 2016) und auch die EU-Mitgliedsstaaten Ungarn, Polen und die Slowakei Verluste verzeichnen würden, wird das Projekt in aller Voraussicht fertiggestellt (FAZ, 2021; Tagesschau, 2021). Ferner argumentiert das DIW (2018), dass das „Angebot an Erdgas (.) bereits gut diversifiziert [ist] und (.) darüber hinaus durch Flüssiggaslieferungen ergänzt werden [kann]“. Passend dazu, fügen H. Franz & C. Onur (2015) noch an, dass Erdgas unterdessen mit Flüssigerdgas (zu Eng. Liquified Natural Gas, LNG) verstärkt konkurriert - wobei anzumerken ist, das LNG nun kostengünstiger produziert wird und somit attraktiv bepreist werden kann. Der Titel des DIW-Stellungspapiers (2018) Erdgasversorgung: Weitere Ostsee-Pipeline ist überflüssig fängt die scheinbar konsensuelle Meinung der Forschungslandschaft bzgl. des wirtschaftlichen Nutzens der Ostseepipeline Nordstream 2 ein: Nordstream 2 hat keinen offensichtlich wirtschaftlichen Nutzen. Der Nutzen von Nordstream 2 geht offenbar über die einfache Versorgung Deutschlands (und Mitteleuropas) mit Erdgas hinaus bzw. lässt sich nicht allein durch direkt wirtschaftliche Interessen rechtfertigen. H. Franz & C. Onur (2015, S. 14) kommen hinsichtlich der Profitabilität von Nordstream 1 zu folgendem Ergebnis: „It is worth stressing that the project is profitable only because it increases the bargaining power [anders ausgedrückt: geopolitische Macht] of the consortium vis-a-vis other players.”. Die vorliegende Arbeit behauptet, dass sich die Geopolitik des Gasmarktes über die Nordstream-Projekte illustrieren und über die Spieltheorie modellieren lässt. Im folgenden Kapitel werden spieltheoretische Termini gelistet und definiert. Die aufgeführten Konzepte sind zentral für die spieltheoretische Modellierung vom eurasischen Handel mit Erdgas.
2.1 Spieltheoretische Fachtermini
Nun werden spieltheoretische Fachtermini definiert und die fundamentalen Annahmen nachfolgender Modellierungen gelegt. Dabei ist anzumerken, dass nur die für die Aufarbeitung des eurasischen Gasmarktes notwendigen spieltheoretischen Konzepte aufgeführt werden. Diese Arbeit legt nach gründlicher Literaturrecherche den Fokus auf die kooperative Spieltheorie und den Lösungsansatz des Shapley Values. Erstmalig von J. von Neumann and O. Morgenstern (Von Neumann, J. and Morgenstern, O. (1953)) modelliert, von Nash (1950) and Shapley (1953) mitgeformt und erweitert, ist die kooperative Spieltheorie das Gegenstück zur nicht-kooperativen Spieltheorie und zentral bei der Modellierung vom Handel mit Gas. Obgleich Autoren (Jackson & Wolinski, 1996; and Jackson, 2008) schon zweistufig vorgegangen sind und den Gashandel zunächst als nichtkooperatives Spiel und in der zweiten Stufe als kooperatives Spiel modelliert haben, ist im Rahmen der Recherche für diese Arbeit der Schluss gezogen worden, dass die kooperative Spieltheorie einen stabileren Nährboden für den Nachvollzug des eurasischen Gashandels als die nicht-kooperative Spieltheorie legt und entsprechend hier nun (in Kürze) beschrieben werden soll.
Kooperative Spieltheorie: Ein kooperatives Spiel beschreibt keineswegs ein Spiel, in dem die einzelnen Spieler gefällig sind; vielmehr werden im kooperativen Spiel Koalitionen - aus Einzelspielern bestehend - betrachtet, die miteinander interagieren. Bei der Koalitionsbildung nimmt die kooperative Spieltheorie an, dass Spieler effiziente Vertragsverhandlungen gestalten und innerhalb der Koalition sodann Möglichkeiten haben, die ihnen zukommenden Überschussauszahlungsanteile der Koalition endogen mitzugestalten, indem bspw. die Erdgasproduktion oder der Erdgastransport als Werkzeuge geopolitischer Machterzeugung instrumentalisiert werden. Anzumerken ist, dass die einzelnen Aktionen oder Strategien der Spieler in der kooperativen Spieltheorie wissentlich unterschlagen werden. Allein die Auszahlungsmatrix des einzelnen Spielers wird betrachtet, wobei jeder Spieler das Ziel verfolgt, die persönliche Auszahlung zu maximieren, wofür dann gegebenenfalls Koalitionen gebildet werden. Die kooperative Spieltheorie kann angewendet werden, um im Wesentlichen zwei Fragen zu beantworten (vgl. Leyton-Brown & Yoav Shoham, 2008, S. 70):
1. Welche Koalition(en) wird(werden) sich bilden?
2. Wie werden die Auszahlungen zwischen den zu den Koalitionen gehörenden Spielern aufgeteilt?
Insbesondere im Rohstoffhandel werden regionale Koalitionen - Handelsgruppen - gegründet, die in Verhandlungen miteinander treten. Dabei sind die zu diesen Handelsgruppen gehörenden Länder die Spieler. Formal sehe dies wie folgt aus: ein Koalitionsspiel ist ein geordnetes Paar (N, v), wo N eine endliche Menge von Spielern (die Länder oder Regionen) ist, indiziert durch i. Weiters assoziiert v. 2N mit jeder Koalition S £ N eine Auszahlung v (S), die die Mitglieder der Koalition unter sich aufteilen können (ibid.). Die Funktion v wird Koalitionsfunktion oder charakteristische Funktion genannt, und ordnet der Koalition gewissermaßen einen Wert zu. Koalitionen bestehend aus nur einem Spieler werden hier Einermengen genannt. Die Koalition, welche alle Spieler umfasst, wird große Koalition genannt. Ein Lösungsansatz eines solchen Spiels kann (mitunter) der Shapley Value sein, der in der Folge einer Erläuterung bedarf.
Shapley Value: Wir können jeder Koalitionsfunktion (N, v) eine Menge an Auszahlungsvektoren V (N) zuordnen. Die Auszahlungsfunktion v (N) ordnet einer Koalitionsfunktion bzw. einer Koalition einen eindeutigen Wert zu und erfasst letztlich die Überschussmenge des Numerairs (bspw. Geld oder Macht), den die Koalition zu Beginn zu Verfügung hat (Roberto Serrano, 2007). Shapley (1953) versuchte seinerzeit zu bestimmen, wie die Überschussmengen von bspw. Geld oder Macht einer Koalition an die einzelnen Mitglieder dieser Koalition distribuiert werden und leitete zwecks dessen den Shapley Value her. Dabei kann der Auszahlungsanteil eines einzelnen Spielers als ein „indicator of power“ (Balazs R. Sziklai et. al, 2020, S.3) gesehen werden. Balazs R. Sziklai et. al (2020, S.3) fügen an: “In general, more successful a player is in generating value for himself or others, the more he in entitled from the whole cake”. Der Auszahlungsanteil wird wiederum von dem Shapley Value bestimmt. Der Shapley Value erfasst nun die durchschnittlichen marginalen Beiträge des Spielers i, wobei alle möglichen Kombinationen in Betracht gezogen, anhand derer eine eine Koalition gebildet werden kann (vgl. Leyton-Brown & Yoav Shoham, 2008, S. 74). Formal kann der Shapley Value wie folgt dargestellt werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zur klareren Verständlichkeit können die verschiedenen Terme der Funktion einzeln betrachtet und interpretiert werden. Beginnend mit [v(S U {i}) — v(S)], erfasst dieser Term den marginalen Beitrag des Spielers i zur Koalition S (vgl. Leyton-Brown & Yoav Shoham, 2008, S. 74). Balazs R. Sziklai et. al modellieren diesen Beitrag bspw. als Beitrag eines Landes zu Kosteneinsparungen im europäischen Gasmarkt; während H. Franz & C. Onur (2015, S.11) schreiben, dass der Wert der Koalition von „pipelines, markets and gas fields“ abhängt und somit jeder Beitrag, der Trassen, Märkte und/oder das Rohstoffangebot erweitert, letztlich zu einem höheren Shapley Value führt.
Diese Menge wird nun mit S! multipliziert, welche all die Zusammenstellungsmöglichkeiten der Koalition vor dem Beitritt des Spielers i erfasst. Weiters wird mit (|N| — |S| — 1)! multipliziert, welche die nachfolgenden Zusammenstellungsmöglichkeiten zusätzlich- beitretender Spieler j mit j erfasst (vgl. Leyton-Brown & Yoav Shoham, 2008, S. 74). Schlussendlich wird über alle möglichen Mengen S summiert und der Durchschnitt durch Division mit der Anzahl der möglichen Anordnungen aller Spieler |N|! gezogen (ibid.). Die nachfolgende Bearbeitung des eurasischen Gashandels wird die Errechnung bzw. die Nützlichkeit des Shapley Values beispielhaft illustrieren.
3. Spieltheoretische Modellierungen des eurasischen Gasmarktes
Das Trassennetzwerk bestimmt nicht allein die Handelsströme, sondern auch das geopolitische Gewicht der einzelnen Spieler - genauer gesagt, wie die Handelsgewinne untereinander verteilt werden (H. Franz & C. Onur, 2015). H. Franz & C. Onur (2015, S.3) beschreiben das Verhalten einzelner Spieler wie folgt: “(...) the actors are trying to shape the network to their own advantage. By opening new options for trade, they can decrease the value of established links if substitutable or increase their value if complementary.” Im folgenden Teil werden die spieltheoretischen Modellierungen des eurasischen Gasmarktes verschiedener Autoren bündig vorgestellt. Die Arbeit geht der Frage nach, wie viel Geopolitik im Gashandel steckt und versucht diese Frage durch die Herannahme der Nordstream- Projekte 1 & 2 zu beantworten. Die Arbeiten stammen von den Autoren F. Hubert & S. Ikonnikova (2011); F. Hubert & C. Onur (2015); und Balazs R. Sziklai et. al (2020); wobei im Anschluss noch einige weitere Arbeiten skizzenhaft dargeboten werden. Die vorgestellten Arbeiten folgen in gewisser Weise einer Chronologie an Ereignissen - zwischen 2004 und 2012 erfolgten der Beschluss und die Inbetriebnahme von Nordstream 1 und im Jahre 2020 war Nordstream 2 schon unlängst beschlossen und der Bau des ersten (von zwei) Rohrstrangs stand kurz vor der Vollendung - und werden in entsprechender Zeitfolge auch vorgestellt. Die Arbeit von F. Huberts und S. Ikonnikovas schätzt den Effekt von Nordstream 1 auf das eurasische Machtgefüge (2011), während die Arbeit von F. Huberts und C. Onurs (2015) die vorangegangen Schätzung gewissermaßen auf ihre Richtigkeit überprüft. Die Arbeit von Balazs R. Sziklai, Laszlo A. Koczy und David Csercsik (2020) untersucht, welche Auswirkungen Nordstream 2 auf das geopolitische Machtgefüge in Eurasien haben könnte. Es ist anzumerken, dass die vorgelegten Arbeiten eine größere Spannbreite an Spielern bzw. Ländern/Regionen umfasst, als im Rahmen dieser Arbeit untersucht werden kann. Die Arbeit konzentriert sich somit auf die geopolitische Positionierung von Russland, Deutschland und der Ukraine, wobei vereinzelt, wenn es sich flüssig in den Argumentationsstrang einfügen lässt, auch andere Regionen mit einbezogen werden.
3.1 F. Hubert & S. Ikonnikova (2011)
Die Arbeit von F. Hubert & S. Ikonnikova ist verfasst worden, bevor Nordstream 2 beschlossen und Nordstream 1 zwar unlängst beschlossen, aber noch nicht fertiggestellt war. Die Studie untersucht mitunter, welche Auswirkungen der Bau von Nordstream 1 auf das geopolitische Machtgefüge zwischen all jenen Nationen haben könnte, die durch die Ferngasleitungen notgedrungen miteinander in der Gastransportfrage koalieren müssen. Die Ergebnisse der Studie könnten eine Erklärung dafür liefern, warum der Bau von Nordstream 2, trotz scheinbar fehlender wirtschaftlicher Rentabilität, vorangetrieben wird.
Allgemein haben die Autoren spieltheoretisch untersucht, wie Macht zwischen einzelnen Transit,- und Empfängerländern und dem eigentlichen Erdgasanbieter Russland entlang des Trassennetzwerks verteilt ist. Insbesondere wird die Verhandlungsmacht einzelner Spieler über die Errechnung des Shapley Values hergeleitet. Dabei werden die „interdependencies in the supply chain“ (vgl. S. 1) als Spiel modelliert, welche die oben beschriebene Koalitionsfunktion anwendet. Der Umfang der Analyse beschränkt sich auf 7 osteuropäische Länder, welche allesamt als Transitländer für Erdgas nach Mitteleuropa fungieren und zeitgleich selbst russisches Erdgas nachfragen. Die Autoren definieren drei Koalitionsspiele: (N,vs),(N,va),(N,v) (vgl. S.9). Im ersten Spiel (N, Vs) kann das Trassennetzwerk weder erweitert noch verkleinert werden. In (N, va) können Investitionen getätigt werden, wobei Investitionen ohne Verzögerung in ihrer Kapazitätserweiterung des Trassennetzwerks wirksam werden; das letzte Spiel (N, v) erweitert das Spiel um den Faktor Trägheit, die bei der Umsetzung des investierten Kapitals auftreten kann. Die expliziten Annahmen der Koalitionsspiele haben einen entscheidenden Einfluss auf die Lösung des Modells (S.2). So erscheinen die Ukraine und Belarus „stronger in the narrowly framed status quo game [(N, vs)] than in the broad assessment of the all options game [(N, v)].“ (S.2).
Zunächst errechnen die Autoren den Wert v einzelner Koalitionen. Der Koalitionswert wird von dem Zugang zu Trassen, Märkten und Gasfeldern bestimmt und wird als Profit gedeutet. Die große Koalition erreicht den höchsten Koalitionswert, da alle Trassen in Benutzung wären und die größte Menge an Gas somit transportiert werden kann. Stünde Russland ohne Koalitionspartner(n) da, würde Russland als Einermenge den kleinsten Koalitionswert - 57% des möglichen Profits einer großen Koalition - erreichen und die Trasse Nordstream 1 für den Erdgastransport nutzen (vgl. S. 13). Würden Russland und die Ukraine koalieren, dann verzichtet Russland auf den Bau von Nordstream 1 und investiert gemeinsam mit der Ukraine in das alte Trassensystem der Ukraine. Russland und Ukraine erreichen durch die Vermeidung der hohen Nordstream-Kosten einen relativen Koalitionswert zur großen Koalition von 96% (vgl. S.13). Insgesamt wird durch eine Koalition mit einer beliebigen anderen Anzahl an osteuropäischen Transitländern (bspw. Polen, die Slowakei, Belarus etc.) und der damit verbundenen Vermeidung des kostenintensiven Nordstream-Baus - einzig in einer Koalition mit Belarus würde Russland den Bau von Nordstream 1 vorantreiben, wobei die Koalition den zweitgeringsten relativen Koalitionswert erreichen würde - ein höherer Koalitionswert erreicht als bei einem Alleingang Russlands und dem daran angebundenen Bau von Nordstream 1 (vgl. S.14). Nun sind die einzelnen Koalitionswerte von geringerem Gewicht für die Untersuchung der eurasischen Machtstruktur als der Shapley Value einzelner Spieler, der die Möglichkeiten des Spielers i beschreibt, einen bestimmten Anteil der kooperativen Gewinne für sich zu behaupten. Der Shapley Value erfasst den erwarteten marginalen Beitrag des Spielers i zu möglichen Koalitionen, wobei alle möglichen Koalitionen betrachtet werden (siehe Kalkulation des Shapley Werts in 2.2). Ein Beitrag ist nutzenstiftend für die Koalition, wenn ein zusätzlicher Markt, ein zusätzliches Angebot oder eine Transitmöglichkeit bereitgestellt wird (vgl. S.9).
Die Autoren führen ihre Analyse mit der Betrachtung des strategischen Werts einzelner Trassen (Bspw. Nordstream) für die jeweiligen Länder fort, indem der Effekt einzelner Trassen auf den Shapley Value isoliert untersucht wird. Genauer gesagt: „To single out the strategic value of particular options, we look at them in isolation, adding one link at a time to the ‘status quo' (vgl. S. 16). Im Status Quo ohne Nordstream ist Russlands Gastransport zur Gänze vom Transit durch die Ukraine und Weißrussland abhängig und das Trassennetzwerk ist statisch - das dazugehörige Koalitionsspiel lautet (N,vs). Hierin erreichen die Ukraine und Weißrussland auch einen relativ hohen Shapley Value - respektive 31.8% und 11.1%. Werden investives Verhalten bzw. Trassenerweiterungen in die Modellierung einbezogen - und gilt nun das Koalitionsspiel (N, va) - beobachten die Autoren unterdies, dass von den Möglichkeiten das Trassennetzwerk zu erweitern oder die Kapazität bestehender Trassen zu erhöhen, der Bau von Nordstream 1 zwar die kostenintensivste Option ist, jedoch auch den größten geopolitischen Nutzen - sprich, Profit - für Russland erbringt (vgl. S.16). Die Autoren finden entsprechend: „In isolation, it [Nordstream 1] raises Russia's index [Shapley Value] from 57% to almost 80%. Even when assessed on the background of all other options, Nord Stream pushes Russia's share from nearly 63% up to more than 82%.” (S. 16). Der Grund hierfür liegt in der Möglichkeit Russlands einen bestimmten Anteil der kooperativen Gewinne für sich zu behaupten. So mag, der Koalitionswert ein höherer sein, wenn Russland mit dem einzelnen Transitländern koaliert, auf Nordstream 1 verzichtet und somit höhere Gesamtprofite erwirtschaftet werden können (geringere Kosten im Transport); jedoch müsste Russland auch mehr Profit an die Koalitionspartner abtreten: „If the only possible transport route were through Ukraine, then Russia and Ukraine would share 1/2 : 1/2. If we add an equally efficient route through Belarus and Poland, Russia would obtain 7/12 of the profit, Ukraine 1/4, and Belarus and Poland would share the rest equally, obtaining 1/12 each” (S. 17). Nordstream 1 ist trotz relativer Ineffizienz (57% des Profits der großen Koalition) immer noch hoch profitable für Russland, da diese 57% zur Gänze an Russland geleitet werden und entsprechend den Shapley Value erhöhen bzw. das geopolitische Gewicht des Landes steigen lässt. Schlussendlich fügen die Autoren den Faktor Trägheit ins Modell mit ein, der die Materialisierungsverzögerungen investierten Kapitals begreift. In diesem Zusammenhang errechnet sich für die Transitländer (Ukraine, Polen) ein höherer Shapley Value, wenngleich der Kernbefund derselbe bleibt (vgl. S.18). Der Kernbefund dieser ersten Arbeit ist, dass Russland mit dem Bau von Nordstream 1 - wobei die Auswirkungen auf den Shapley Value hier isoliert betrachtet werden - zumindest theoretisch den höchsten geopolitischen Gewinn erfahren würde. Die nächste Arbeit überprüft diese These.
3.2 H. Franz & O. Coblani (2015)
Franz Hubert und Onur Coblani beurteilen drei Jahre nach dem Bau von Nordstream 1 den strategischen Wert der Ostseepipeline. Gewissermaßen werden die theoretischen Ergebnisse aus dem Jahr 2011 (F. Hubert & S. Ikonnikova, 2011) nochmals aufgriffen und vor dem Hintergrund des im Jahr 2014 bestehenden Trassennetzwerks auf ihre Richtigkeit überprüft.
Die Autoren kommen direkt zu Beginn zu einer wichtigen Beobachtung: „these projects [Nordstream und Southstream] appears out of range with both production possibilities and market demand.“ (S. 4). Eine Untersuchung der Erdgasnachfrage zeigt, dass die Nachfrage 2010 einen Spitzenwert erreichte und seither auf einem leicht geringeren Niveau stagniert (Eurostat, 2019). Zwar wurde das Projekt Nordstream 1 zu einer Zeit steigenden Erdgaskonsums beschlossen; dennoch übertreffen mit deutlichem Abstand die letztendlichen Transportkapazitäten von Nordstream 1 und South-Stream - die Pipeline sollte durch das Schwarze Meer und dem Balkan nach Österreich verlaufen und wurde jedoch 2014 eingestellt - die Nachfrage aus der EU (vgl. S. 4). Wird diese Beobachtung nun, mit der zu Beginn postulierten, steigenden Konkurrenz von LNG durch kostengünstigere Produktion gepaart, muss auch wiederholt an der Wirtschaftlichkeit von Nordstream 2 gezweifelt werden.
Die Autoren kommen zu folgendem Ergebnis, das ganz im Sinne der Erarbeitung aus dem Jahr 2011 ist (siehe oben): „When assessing the power structure with the Shapley Value we find that Nord Stream's strategic value is huge, easily justifying the high investment cost for Germany and Russia.“ (S. 6). Das Modell ähnelt dem vorherigen: der Koalitionswert einer Koalition ergibt sich aus einer Optimierung der gemeinsamen Gasflüsse in den für die Koalition nutzbaren Trassen (vgl. S. 6), dabei erfasst die Koalitionsfunktion „the geography of the network, different cost of alternative pipelines, demand for gas in the different regions, production cost, etc“ (S.7). Es sollte angefügt werden, dass zusätzliche Trassen nicht vornhinein den Wert einer Koalition steigern, da, wie soeben schon festgestellt, die Nachfrage das Trassenangebot nicht stützt (vgl. S. 13). Dies heißt im Umkehrschluss, dass jede Erweiterung des Trassennetzwerks höchstens das geopolitische Machtgefüge wandeln lässt. Die Autoren vergleichen die relative Macht jedes Spielers vor der Hinzunahme der Ferngasleitung Nordstream 1 mit dem Shapley Value nach dem Bau von Nordstream 1 vor dem gesamten existierenden Trassennetzwerk. Dabei werden einige Regionen unter der Dachregion „Zentrum“ (Deutschland, Schweiz, Dänemark und Luxembourg) zusammengefasst, wohingegen andere Regionen die respektiven Länder direkt begreifen (bspw. Russland, Ukraine, Belarus) (vgl. S.11). Russlands Shapley Value umfasst “production capacities as well as their dependency on the transit countries [bspw. Ukraine und Belarus] to access to consumer markets” (S. 12). Dagegen ist der Shapley Value der Ukraine und Belarus eine Folge aus dem jeweiligen Trassen,- bzw. Transitangebot. Es lohnt sich an dieser Stelle, auch Norwegen kurzweilig in die Betrachtung zu ziehen, da Norwegen einen höheren Shapley Value als Russland vor dem Bau der Gaspipeline aufwies - respektive 13% und 12,8%. Mit dem Bau von Nordstream veränderten sich jedoch die relativen Machtpositionen beider Länder dahingehend, dass Russland (jetzt: 15,9%) nun mehr der kooperativen Gewinne für sich einfangen kann als Norwegen (jetzt: 10,5%)[I] (vgl. S.13). Die Ukraine und Belarus verlieren durch den Bau von Nordstream 1 respektive 2,5% und 0,8% ihres Shapley Values, wohingegen das Zentrum 1,5% hinzugewinnt (vgl. S. 13). Die Autoren schreiben zusammenfassend: „Nord Stream's strategic impact can hardly be overstated. For the initiators of Nord Stream, Russia and Germany, the gains in bargaining power clearly justify the cost of investment.” (S.25). Inwiefern Deutschland abseits des direkteren Gasimports profitiert, wird in der folgenden Forschungsarbeit ersichtlich. Aus dieser Arbeit ist jedoch klar geworden, dass die Zunahme an Verhandlungsmacht für Deutschland und Russland mit einer Abnahme der Verhandlungsmacht anderer Nationen einhergeht. Ukraine und Belarus büßen Transitgebühren ein bzw. verlieren die Möglichkeit die gleichen Transitkapazitäten anzubieten, verlieren dadurch relativ an geopolitischem Gewicht und bekommen einen geringeren Shapley Value errechnet. In der nächsten Studie wird die eurasische Machtarchitektur vor dem Hintergrund des Trassennetzwerkes und insbesondere der bevorstehenden Fertigstellung Nordstream 2 untersucht.
3.3 Balazs R. Sziklai et. al (2020)
Die letzte Studie impliziert wiederum einen Zeitsprung und somit auch einen gewandelten Beobachtungsgegenstand. Balazs R. Sziklai et. al (2020) errechnen vor dem Hintergrund der Fertigstellung der zweiten Ostseepipeline Nordstream 2 den Shapley Value verschiedener Länder. Balazs R. Sziklai et. al (2020, S. 3) definieren den Koalitionswert als „the savings resulting from transporting (trading) gas within the coalition.”. Der Gashandel resultiert deswegen in Kosteinsparungen, weil die Länder, die keine Gaslieferungen erhalten, ihren Energiebedarf über Backstop-Energy-Sources decken müssen und diese - per Annahme - kostenintensiver ausfallen. Die Autoren interpretieren die Backstop-Energy-Sources wie folgt: „The backstop source can also be interpreted as the cost of government intervention to mitigate damages due to the gas shortage” (s. 3). Formal lässt sich der Koalitionswert also wie folgt berechnen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Der Shapley Value wird, wie in den bisher dargebotenen Studien, über die marginalen Beiträge der einzelnen Länder/Regionen zu all möglichen Koalitionen bestimmt, wobei abermals der Zugang zu Trassen, Erdgasfeldern und der Zugang zu neuen Märkten ausschlaggebend ist. Der Unterschied zu den Modellierungen von H. Franz & O. Coblani (2015) und F. Hubert & S. Ikonnikova (2011) liegt darin, dass der Koalitionswert nicht die Profite insgesamt einer Koalition einfängt, sondern eben die Möglichkeit Kosten bei der Energieverwertung einzusparen (S.4-6). Die zur Koalition beitretenden Länder/Regionen können entweder Konsumieren, Produzieren, sich zum Erdgastransit verfügbar machen oder mehrere Rollen gleichzeitig übernehmen. Konsumenten ersetzen teure Backstop-Sources durch das günstigere Erdgas, während Produzenten verschiedene Märkte nutzen, um die wirtschaftliche Rentabilität der Erdgasproduktion sicherzustellen und bei ausreichend großer Nachfrage günstig anbieten zu können. Transitländer ermöglichen dann günstige Transportbedingungen, wenn eine Koalition zwischen Konsumenten, Produzent und dem Transitland beschlossen wird (vgl. S.5). Die Autoren durchspielen bei der Errechnung der Shapley Values zwei Szenarien und setzen diese ins Verhältnis zu den Kalkulationen der Shapley Values des aktuellen Netzwerks: in einem ersten Szenario wird untersucht, was mit den eurasischen Machtverhältnissen geschieht, wenn die Transitroute durch die Ukraine von Russland gänzlich vermieden wird; daraufhin wird ein Szenario untersucht, indem Nordstream 2 in Betrieb ist und die ukrainische Transitroute entsprechend an Bedeutung verliert; Schlussendlich wird überprüft, welchen Effekt die Inbetriebnahme von Nordstream 2 bei zeitgleicher Schließung der Transitroute durch die Ukraine auf eurasische Machtverhältnisse hätte.
Sollte Russland ohne die Inbetriebnahme von Nordstream 2 auf den Transit durch die Ukraine verzichten, würden beide Länder und der mittel-östliche europäische Raum davon Schaden nehmen, da die meisten dort liegenden Gasabnehmer auf die Zufuhr aus Russland durch die Ukraine abhängig sind (vgl. S.9). Russlands Shapley Value würde um 12,1% sinken, wohingegen die Ukraine 71,1% ihres Shapley Values einbüßen müsste. Das Szenario wird in Anbetracht des andauernden Spannungsverhältnisses zwischen Russland und der Ukraine, wofür die Gaskrise 2009 und die Krimkrise 2014 exemplarisch sind, von den Autoren untersucht.
Wird Nordstream 2 in Betrieb genommen, ohne die Transitroute durch die Ukraine zu schließen, erfahren Deutschland und Russland erwartungsgemäß den größten Machtgewinn. Inwiefern Russland durch den Bau einer weiteren Trasse profitieren kann, ist in den vorherigen Arbeiten hinlänglich beschrieben worden (Siehe 3.1 und 3.2). Der Shapley Value würde für Russland laut dieser Arbeit nochmals um 7,5% relative zum Basiswert ohne Nordstream 2 zunehmen. Deutschland erfährt auch einen Machtgewinn, ausgedrückt in einem höheren Shapley Value (+ 13.1%), da Deutschland nun auch als Distributor für Zentral,- und Westeuropa fungieren kann und somit einen größeren Anteil der kooperativen Gewinne für sich einfangen kann. Norwegen (-14,6%) würde in diesem Szenario verlieren, weil nun günstiges kompetitives Erdgas in großen Mengen praktisch vor die Haustür angeliefert wird (vgl. S.10 und siehe 3.2); auch Polen, Tschechien, die Slowakei und die Anbieter von LNG (wozu demnächst auch die USA gehört) würden in diesem Szenario verlieren (vgl. S.10). In einem kombinierten Szenario kommen die Effekte beider vorweg beschriebenen Szenarien zum Ausdruck: Ukraine (-69,9%) und Zentralost-Europa (ca. -20% bis ca. - 50%) erfahren den größten Schaden, während Deutschland der größte Gewinner wäre, während Russland nur einen Zuwachs von 0,8% zum Shapley Value erfahren würde (vgl. S.10). Anders formuliert, sollte Russland bei Vorhandensein von Nordstream 2 auf die Transitroute durch die Ukraine verzichten, würde Russland 6,7% seines Shapley Values verlieren, was einem Umsatzverlust von bis zu 2 Mrd. $ gleichkäme (vgl. S. 10).
Die Autoren beurteilen das Szenario wie folgt: „From this viewpoint, the political stance of the protesting Eastern European countries seems perfectly logical” (S.7). Gerade in dieser Arbeit wird die geopolitische Bedeutung von Nordstream 2 (im weiteren Sinne auch von Nordstream 1) gut veranschaulicht: die Zunahme einzelner Shapley Values gelingt, weil andere an geopolitischem Gewicht verlieren. In 3.2 kamen die Autoren bei der Untersuchung des geopolitischen Impacts von Nordstream 1 genau zu diesem Ergebnis. Somit kommt der Erdgashandel zwischen Koalitionen einem Nullsummenspiel nahe. Weiters ist auch klar geworden, worin das Interesse Deutschlands an der Vollendung von Nordstream 2 liegt: der Shapley Value steigt mit der Möglichkeit das Erdgas nun auch selbst distribuieren zu können. Schlussendlich ist gerade das Ergebnis des kombinierten Szenarios interessant, da nur Deutschland einen beträchtlichen Zuwachs geopolitischer Macht erfahren würde und Russland hingegen nur einen geringfügigen, da russisches Erdgas noch immer in den Balkan transportiert werden muss und die Ukraine ein wichtiges Glied in der Transitkette darstellt.
3.4 Zusätzliche Literatur
Abschließend sollen nochmal einige lesenswerte Arbeiten zu spieltheoretischen Modellierungen des eurasischen Gasmarktes und zum geopolitischen Gewicht der Nordstream Projekte nachgezeichnet werden.
Stole & Zwiebel (1996a) und Stole & Zwiebel (1996b) haben vor dem Bau und dem Beschluss der Nordstream-Projekte gezeigt, dass der Shapley Value auch in einem nichtkooperativen Rahmen eine eindeutige Lösung zum Spiel des eurasischen Gasmarkts liefert; und zwar dann, wenn ein zentraler Spieler (Russland in unserem Fall) in bilaterale Verhandlungen mit andere, weniger essenzielle Spieler tritt, wobei immer wieder neuverhandelt werden kann, bevor Investitionen getätigt werden. In anderen Worten: der zentrale Spieler (Russland) nutzt die ihm natürlich-zugesprochene zentrale Position aus, um den größtmöglichen Nutzen aus bilateralen Verhandlungen zu ziehen. Dieses Ergebnis fügt sich gedanklich sauber in die Ergebnisse der aufgeführten Studien ein; obgleich Russland koalieren muss, um Märkte und Transitrouten zu erschließen, verhielt sich das Land bzgl. bestimmten anderen Ländern (bspw. Ukraine) bisweilen wie in einem nicht-kooperativen spieltheoretischen Umfeld.
K. O. Lang und K. Westphal (2017) vollziehen eine qualitative Analyse und konkludieren entsprechend den Schlussfolgerungen aus den oben aufgeführten spieltheoretischen Modellierungen. Das eigentliche Ziel von Nordstream 2 ist es nicht, das ungebrochene Anwachsen der Gasnachfrage zu deckeln, sondern schlicht die Ukraine zu umgehen und somit die eigene geopolitische Position neu bzw. verändert zu definieren - eben ohne den Einfluss des früheren Koalitionspartners Ukraine. Desweiteren schreiben die Autoren: „It [Nordstream] is associated with high political costs, regardless of whether it is completed rapidly, late or never. The differences in interests and perceptions already have consequences for relations between EU member states, between the EU and Russia, and between individual member states and Russia” (S. 35). Da die politischen Kosten bröckelnder Beziehungen zu einem (oder mehrere) Koalitionspartner jedem Staatsoberhaupt bekannt sein dürften, ist davon ausgehen, dass der geschätzte geopolitische Machtzuwachs (Zuwachs des Shapley Values) größer als die kurz,- und mittelfristigen politischen Kosten eines oder mehrerer Koalitionsbrüche ist.
Weiters postulieren J. Perovic & Maria Shagina (2021), dass das Umspielen seiner Koalitionspartner schon immer Russlands objektive war und Sanktionen seitens Ukraine gegen Russland wenig wirksam wären: „Constructing alternative pipelines and supplying hydrocarbons directly to its European customers has been Gazprom's long-standing policy“ (S.5). Auch diese Beobachtung ist mit den obigen Ergebnissen aus der spieltheoretischen Analyse im Einklang: wenn Russland sich dezidiert für die eurasische Wirtschaftsgemeinschaft einsetzen würde, dann würde Russland den Wert der großen Koalition unterstützen, ohne sich mehr geopolitischen Einfluss durch die Akzentuierung bestimmter Koalitionen zu erarbeiten. Russland entschied sich nach (oder gerade wegen) wiederholten Ausschreitungen mit der Ukraine seine geopolitische Macht auszubauen, indem der Wert bestimmter Koalitionen gesteigert wurde (Deutschland - Russland) und andere wiederum gesenkt wurden (bspw. Ukraine - Belarus - Russland), um einen größeren Anteil der kooperativen Gewinne einzufahren.
5. Fazit
Die vorliegende Arbeit ging der Frage nach, wie viel Geopolitik im Handel mit dem Gas steckt. Mit Hilfe der kooperativen Spieltheorie und des Shapley Values ist ersichtlich geworden, dass abseits der wirtschaftlichen Notwendigkeit die Gasnachfrage aus Europa zu deckeln, auch die Möglichkeit geopolitisches Einflussvermögen zu steigern, eine wesentliche Rolle bei dem Verhalten der Länder auf dem eurasischen Gasmarkt spielen könnte. Die Ergebnisse können sich je nach Annahme zu spieltheoretischer Modellierung verändern (bspw. innerhalb der nicht-kooperativen Spieltheorie oder mit Hilfe anderer Lösungsansätze). F. Hubert & S. Ikonnikova haben 2011 schon gezeigt, dass der Bau von Nordstream 1 Russland aus geopolitischer Sicht eine gestärkte Position zukommen lassen könnte. Russland trieb den Bau von Nordstream 1 voran, weil die Nachfrage ausreichend war und größere Anteile der kooperativen Gewinne (also des gesamten Erdgasprofits), durch das partielle Umgehen der Transitroute durch die Ukraine, möglich wären. H. Franz & O. Coblani (2015) haben dieses Ergebnis bestätigen können. Zusätzlich ist mit ihrer Arbeit klargeworden, dass der Gashandel zwischen Koalitionen einem Nullsummenspiel nahekommt. Wo Deutschland und Russland dank des Baus von Nordstream 1 an geopolitischem Gewicht gewinnen konnten, verlor die Ukraine die Fähigkeit sich Anteile der kooperativen Gewinne anzueignen. Balazs R. Sziklai et. al (2020) zeigen nochmals, dass, obgleich Nordstream 2 für die große Koalition wirtschaftlich wenig Sinn ergibt, der geopolitische Nutzen für die beteiligten Nationen steigen könnte. Sowohl Deutschland als auch Russland können zulasten anderer Länder (Ukraine, Norwegen, Polen, USA) ihre Anteile an den kooperativen Gewinnen erhöhen. Sollte Russland jedoch auf den Transit durch die Ukraine gänzlich verzichten, schmilzt der Zuwachs an geopolitischer Macht, da die Einnahmen aus dem Gastransit in den Balkan durch die Ukraine wegfielen. Eine interessante Einsicht ist, dass Russlands Wirtschaft mit der Annexion der Krim und der darauffolgenden internationalen Sanktionen einen Schrumpfgang von etwa 10% erfuhr oder etwa 137 Milliarden $ (Bloomberg, 2018). Dieser Verlust an Wirtschaftskraft entspricht ca. dem 60-fachen Verlust, der bei einem Verzicht auf die Transitroute durch die Ukraine entstünde. Es kann vermutet werden, dass Russland die geopolitische Bedeutung der Krim als ausreichend einschätzte, sodass dieser den Umsatzverlust durch die internationalen Sanktionen gegen Russland überkompensieren kann. Eine daraus entspringende Frage ist, ob die geopolitischen Nutzenzuwächse eine Schließung des Ukrainetransits überkompensieren würden. (vgl. Balazs R. Sziklai et. Al, 2020, S.9).
Für die weitere Forschung könnte es von Interesse sein, die geschätzten Veränderungen der europäischen Erdgasnachfragestruktur mit in die Berechnung des Shapley Values verschiedener Länder in Eurasien einzuflechten. Sollte die Nachfrage nach Erdgas aus Europa langfristig abnehmen (Walter Kaufmann & Robert Sperrfeld, 2021), könnten sich die Machtverhältnisse abermals verlagern. Wenn Exportziele gen globalen Süden neu definiert werden müssen, da viele Regionen im globalen Süden weiterhin vom Import fossiler Brennstoffe aus Russland abhängig sein werden, wird Russland noch immer vor dem Problem stehen, das Gas über Rohrleitungen transportieren zu müssen. Zum Beispiel könnte Deutschland aufgrund der Transportkapazitäten von Nordstream 1 & 2, und der diplomatischen Beziehung zu Russland, zum ersten Abnehmer und Verteiler gen Süden avancieren und somit auch einen höheren Shapley Value erreichen. Daran anfügend, wird unter Russlands Führung das Trassennetzwerk hin zu Südostasiatischen Staaten möglicherweise diversifiziert werden. Auch hier kann spieltheoretisch analysiert werden, welche Routen für Russland den größten geopolitischen Nutzen erbringen und welche Koalitionen somit entstehen. Schlussendlich könnte spiel theoretisch analysiert werden, welchen Nutzenverlust im Sinne von geopolitischem Machtverlust die Umgestaltung der russischen Energiewirtschaft hin zu erneuerbaren Energien hätte. Hierin könnte eine weitere Erklärung dafür geliefert werden, dass Russland die bisherige Umgestaltung der Energiewirtschaft scheinbar blockiert (Walter Kaufmann & Robert Sperrfeld, 2021).
Literaturverzeichnis:
Balazs R. Sziklai, Laszlo A. Koczy, David Csercsik (2020). “The impact of Nord Stream 2 on the European gas market bargaining positions.” Energy Policy 144 (2020) 111692.
Deutsches Institut für Wirtschaftforschung (DIW) (2018). “Erdgasversorgung: Weitere Ostsee-Pipeline ist überflüssig“. DIW Wochenbericht 17 (2018).
European Policy Strategy Centre, 2016. “Nord Stream 2 - Divide et impera Again?".
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Europäisches Parlament (2017). „EU-Gasimporte: Neue Regeln für Pipelines aus Drittländern.“ URL: https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/economy/20190328STO33742/eu- gasimporte-neue-regeln-fur-pipelines-aus-drittlandern [01.09.2021]
Hubert F. & Cobanli O. (2015). "Pipeline Power: A Case Study of Strategic Network Investments," Review of Network Economics, De Gruyter, vol. 14(2), pages 75-110, June.
Hubert F. & Ikonnikova S. (2011). "Investment Options And Bargaining Power: The Eurasian Supply Chain For Natural Gas," Journal of Industrial Economics, Wiley Blackwell, vol. 59(1), pages 85-116, March.
Kaufmann W. & Sperfeld R. (2021). “Ein grüner Kompass für die Energie- und Rohstoffbeziehungen zwischen der EU und Russland”. URL: http://www.ru.boell.org/de/2021/04/09/ein-gruener-kompass-fuer-die-energie-und- rohstoffbeziehungen [01.09.2021].
Lang, K.-O., & Westphal, K. (2017). „Nord Stream 2: a political and economic contextualisation.” (SWP Research Paper, 3/2017). Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik - SWP- Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit. https://nbn- resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-51318-5
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Perovic J. & Shagina M. (2021). “Nord Stream 2: It's Time to Change Perspective”. Center for Security Studies (CSS) 9(6), ETH Zürich. URL: Nord Stream 2: It's Time to Change Perspective - Research Collection (ethz.ch) [05.09.2019]
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Von Neumann, J. and Morgenstern, O. (1953). „Theory of Games and Economic Behavior.” 3rd Edition, Princeton University Press, Princeton
Internetquellen:
Bloomberg (11.2018). “Here is one measure that shows sanctions on Russia are working” Here's One Measure That Shows Sanctions on Russia are Working (bloombergquint.com) [06.09.2021]
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1 Dieses Ergebnis ist eine Folge aus der Modellannahme, dass Norwegen rein als Produzent von Rohstoffen auftritt und aufgrund zusätzlicher Konkurrenz, weniger absetzen kann und einen geringeren Anteil der kooperativen Gewinne für sich behaupten kann.
- Quote paper
- Nicolai Struck (Author), 2020, Wie viel Geopolitik steckt im Erdgashandel? Geopolitische Bedeutung der Ostseepipelines Nord Stream 1 und 2, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1254818