2009 erschien Didier Eribons "Retour á Reims", welches 2016 in der deutschen Übersetzung als "Rückkehr nach Reims" im Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde. Didier Eribon (geboren 1953) ist Journalist beim Wochenmagazin "Le Nouvel Observateur", Autor zahlreicher Bücher sowie Philosoph und Soziologe. Von 200 bis 2017 war er Professor an der Université de Picardie Jules Verne sowie Gastprofessor an der University of California in Berkeley und am Institure for Advanced Studies in Princeton. 2021 folgte eine Gastprofessur an der Eidgenössichen Technischen Hochschule Zürich im Fachbereich Französische Literatur.
Buchrezension - Didier Eribon - Rückkehr nach Reims
Eribon, Didier, Rückkehr nach Reims, edition suhrkamp SV, 2009, aus dem Französischen übersetzt 2016, 978-3-518-07252-3
Rezensiert von: Melnyk, Theresa, Ludwig-Uhland-Institut der Univerität Tübingen 2009 erschien Didier Eribons „Retour a Reims“, welches 2016 in der deutschen Übersetzung als „Rückkehr nach Reims“ im Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde. Didier Eribon(geboren 1953)ist Journalist beim Wochenmagazin „Le Nouvel Observateur“, Autor zahlreicher Bücher sowie Philosoph und Soziologe. Von 200 bis 2017 war er Professor an der Université de Picardie Jules Verne sowie Gastprofessor an der University of California in Berkeley und am Institure for Advanced Studies in Princeton. 2021 folgte eine Gastprofessur an der Eidgenössichen Technischen Hochschule Zürich im Fachbereich Französische Literatur. Anlass für das Buch „Retour a Reims“ war der Tod seines Vaters. Als Eribon von diesem erfährt, nimmt er dies zum Anlass, um nach Hause zurückzukehren, sich auf seine Wurzeln zurückzubesinnen. Es handelt sich um eine Mischung aus einer Autobiographie und einer soziologischen Milieustudie. Eribons Erlebnisse bilden den Boden, auf dessen Grundlage er die Lage der Arbeiter:innenklasse in den Jahren seiner Jugend analysiert, wobei er gleichzeitig den Versuch unternimmt zu erklären, warum so viele Arbeiter:innen den Front National wählen.
Wie sehr dieses Buch nicht „nur“ eine Autobiographische Reise in die Vergangenheit, sondern gleichzeitig der bereits kurz beschriebene Versuch einer soziologischen Milieuanalyse ist,zeigt sich bereits auf den ersten Seiten. Eribon beschreibt hier sein Projekt, die Frage, die ihn zur Aufnahme des Stiftes gebracht hat: „Meine gesamte theoretische Arbeit (...) hatte sich (...) auf die unabweisbare Annahme gegründet, dass der totale Bruch mit meiner Familie wegen meiner Homosexualität erfolgt sei, wegen der eingefleischten Homophobie meines Vaters und des Milieus, in dem ich groß geworden bin. Aber war es nicht genau diese Annahme, die mich (.) dem Gedanken ausweichen ließ, dass ich ebenso sehr mit meinem Milieu als sozialer Klasse gebrochen hatte?“ (Eribon 2016: 22) Es sind also zwei prekäre Perspektiven, die Eribon hier vereint. So kommt er selber aus der Arbeiter:innenklasse und ist gleichzeitig, als Homosexueller, nicht in der Lage seine Sexualität auszuleben. Er beschreibt seinem Weg, der ihn in jungen Jahren nach Paris führt, als Ausstieg aus zwei gesellschaftlichen Situationen. Zum einen bildet Paris den Sehnsuchtsort für das Erleben seiner Homosexualität. Gleichzeitig bietet es ihm aber auch die Möglichkeit seiner Klasse zu entfliehen. Seine Erfahrungen verarbeitet Eribon dabei kreativ durch seine schriftstellerische Arbeit, in der ihm allerdings eine Diskrepanz auffällt, die er wie folgt beschreibt: „Ich wählte die eine Art, mich als schreibendes Subjekt in mein Schreiben zu verwickeln, nicht die andere, ja, ich schloss die andere regelrecht aus. Damit fand ich nicht nur eine bestimmte Weise, mich selbst in der Gegenwart zu definieren und zu subjektivieren, ich legte mir auch eine bestimmte Vergangenheit, Kindheit und Jugend zurecht: „Ein schwules Kind sei ich gewesen, ein schwuler Heranwachsender, kein Arbeiterkind. Und doch!“ (Eribon 2016:26). Diese Passagen der persönlichen Reflexion wechseln sich ab mit Abschnitten, in denen Eribon seine Kindheit und Jugend beschreibt. Er thematisiert das Verhältnis zu seiner Familie, seiner Mutter, seinem Vater, seinen Brüdern. Darüber hinaus gibt er Erzählungen seiner Mutter über deren Mutter wieder und gibt so einen Einblick in seine Familiengeschichte. Er beschreibt die Klassenkämpferischen Parolen seines Großvaters, erzählt von Spannungen zwischen Mutter und Großmutter sowie vom Kennenlernen von Mutter und Vater. Dadurch, dass er nicht die Perspektive eines Außenstehenden wählt, sondern aus der Ich-Perspektive berichtet, wird der junge Eribon sehr nahbar, wenn er z.B. davon erzählt, dass die Beziehung seiner Eltern „eine permanente Ehekrise [war], sie [seine Eltern] schienen nicht in der Lage zu sein, ohne verletzende oder beleidigende Untertöne miteinander umzugehen.“ (Eribon 2016: 74) Es folgen weitere Schilderungen des Ehelebens, Schilderungen davon, wie Mutter und Vater mit dem Junge Didier umgingen sowie Ausführungen über seine Lieblingsliteratur, seine Interessen und Hobbys. Diese persönlichen Geschichten lassen tief in Eribons Jugend blicken. Auf der Basis der eigenen Erlebnisse beginnt Eribon zu analysieren, warum die Arbeiter:innenklasse, ja seine eigene Familie, begonnen hat den Front National, eine rechte Partei, zu wählen, obwohl sie eigentlich immer Kommunistisch gewählt hatte. Diese Metareflexionen sind dabei auf eine Art in den Text eingebunden, durch die es nicht auffällt, dass sie den Boden der Autobiographie verlassen und den der soziologischen Milieustudie betreten. Beispielswiese berichtet er von Schuldgefühlen gegenüber seinen drei Brüdern, die alle die Schule recht früh freiwillig verließen um zu arbeiten, wobei er sich die Frage stellt ob sie es, wenn er Ihnen geholfen hätte, nicht vielleicht doch bis zum Abitur geschafft hätten. „Schon lange bevor mich diese Schuldgefühle zu plagen begannen, fühlte ich mich als jemand, der wie durch ein Wunder den Gesetzen des Schulsystems entronnen war. (...) Das gesellschaftliche Verdikt, welches von Geburt an über uns lag, hatte sie [seine Brüder] mit viel härterer Kraft getroffen. In Fanon, einem anderen seiner Romane, spricht Widemann über die Kraft solcher Verdikte(...)“. (Eribon 2016: 109) Eribon führt diese Beschreibungen weiter aus, bringt sie in Beziehung zu seiner eigenen Geschichte, zu seinen Brüdern um schließlich auf der gesellschaftlichen Ebene herauszukommen. So fragt er sich im Anschluss an diese Reflexionen: „Ist es möglich, die oben angedeutete Übertragung fortzuführen und die grundlegendsten Funktionsweisen und alltäglichen Mechanismen der Gesellschaft als einen >>Krieg<< des Bürgertums du der herrschenden Klasse, eines unsichtbaren (oder viel zu sichtbaren Feindes gegen die populären Klassen zu beschreiben?“(Eribon 2016:111) Es ist grade diese eigentümliche Mischung aus Autobiographie, soziologischer Milieustudie sowie beinahe schon philosophischen Interpretationen, die den Reiz von Rückkehr nach Reims ausmachen. Die Leser:innen werden mitgenommen auf eine Reise zurück in Eribons Kindheit und Jugend, an den Ort, aus dem er entstammt. Ihnen wird dabei von seiner Familie sowie seiner Wohnsituation, seiner Schulzeit und seinen ersten akademischen Schritten berichtet. Aber auch Eribons Seelenleben findet Platz auf den insgesamt 238 Seiten. Wie fühlt sich ein junger Homosexueller in einer Umgebung, die nicht offen für ihn und seine sexuelle „Andersartigkeit“ ist? Fragen, auf die Eribon keine allgemeingültige, aber eine persönliche Antwort geben kann. Gerahmt werden diese autobiographischen Studien durch Reflexionen über das, was es bedeutet einer bestimmten Klasse anzugehören. Hier wird der Einfluss Bourdieus deutlich, mit dem er sich im Verlaufe von Rückkehr nach Reims auseinandersetzt, durch Bezugnahme aber auch durch kritische Reflexion. (Vgl. z.B. S.151ff.)
Alles in allem handelt es sich bei Rückkehr nach Reims um ein durch und durch lesenswertes Buch. Auch wenn eine Rezension an sich keine Apologie sein soll, schließt diese mit einer unbedingten Empfehlung, ohne Kontrapunkte zu nennen. Es handelt sich bei Rückkehr nach Reims um eine originelle Verbindung aus verschiedenen Gattungen, die eine gelungene Synthese bilden. Die Autobiographischen Passagen machen die soziologischen Analysen greifbarer und bilden mitunter eine angenehme Abwechslung von den durchaus anspruchsvollen Reflexionen. Spannend ist Rückkehr nach Reims allerdings auch vor dem Gesichtspunkt der Kreativität. So wird Eribon durch seine Homosexualität im schwulenfeindlichen Reims zu kreativen Umgangsformen gezwungen. Er beschreibt verschiedene Orte, Möglichkeiten damit umzugehen und bettet diese umgehend wieder in seine Metareflexion ein. Die Frage, ob hier möglicherweise ein eigenes Kreativitätsdispositiv vorliegt, ein Dispositiv welches Kreativität als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung darstellt, ist einer der Punkte, den etwaige Leser:innen selbst herausfinden müssen. Schlussendlich lässt sich das gesamte Buch durch die Brille des Kreativitätsdispositivs lesen. Denn Eribon geht nicht nur der Frage nach seinem eigenen Umgang mit Prekarität und Homosexualität nach, sondern stellt sich auch die Frage nach dem allgemeinen Umgang der Arbeiter:innen mit ihrer Klassenlage, einer Lage, für die seine Familie stellvertretend steht und die ihren eigenen Umgang mit dieser Prekarität findet. Wie genau dieser aussieht ist, scheint wie die Frage nach dem Kreativitätsdipositiv eine, die hier nicht beantwortet wird. Und so schließt diese Rezension mit dem Aufruf den aufgeworfenen Fragen selbst Grund zu gehen und sich auf den Weg zur Rückkehr nach Reims zu machen. Es lohnt sich!
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- Theresa Melnyk (Author), 2021, Buchrezension zu Didier Eribons "Rückkehr nach Reims", Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1195250