INHALTSVERZEICHNIS :
1. ‚Theorien des differenziellen Lernens’
2. ‚Die Theorie der differentiellen Assoziation’ von Sutherland
2.1. Kurzbiographie: Edwin Hardin Sutherland
2.2. Vorraussetzungen für abweichendes Verhalten
2.3. Die zentrale These von Sutherland
3. Die 9 Thesen von Sutherland
4. Kritik
5. ‚Die Theorie der differentiellen Gelegenheiten’ von Cloward & Ohlin
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Edwin Hardin Sutherland
13. August 1883 – 11. Oktober 1950
1. ‚Theorien des differenziellen Lernens’
Was bedeutet überhaupt „differentielles Lernen“?
Differentiell meint in diesem Zusammenhang die Unterscheidung, ob es sich um konforme oder abweichende Verhaltensweisen, Normen oder Werte handelt. Lernen hingegen bezieht sich hierbei auf die Prozesse der Kommunikation, die interaktiv mit anderen Personen oder speziellen Gruppen in einer Gesellschaft ablaufen und deren Folgen (bei Ablehnung oder Annahme des gezeigten Verhaltens).
Grundsätzlich bauen alle Theorien des differentiellen Lernens auf allgemeinen Lerntheorien auf. Die Lerntheorien werden häufig dem Bereich der sozial-psychologischen Kriminalitätstheorien zugeordnet. Es gibt jedoch verschiedene Auffassungen, in welcher Art und Weise Lernprozesse erfolgen und von welchen zusätzlichen Bedingungen Erfolg und Misserfolg abhängen. Die älteste Theorie ist die von Edwin Sutherland. Sie ist richtungsweisend für alle folgenden Theorien wie z. B. „Theorie der differentiellen Identifikation“ von Glaser (1956) und die „Theorie der differentiellen Gelegenheiten“ von Cloward & Ohlin (1960).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung1-Allgemeine Lerntheorien
Es soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass es in jeder Gesellschaft abweichendes Verhalten gibt - und auch in kleineren sozialen Gebilden Abweichungen nichts Außergewöhnliches sind.
2. ‚Die Theorie der differentiellen Assoziation’ von Sutherland
2.1. Kurzbiographie: Edwin Hardin Sutherland
Sutherland wurde am 13. August 1883 in Nebraska (USA) geboren, studierte in Ottawa, Kansas und Grand Island, um später an der Universität von Chicago seinen Doktortitel zu erwerben. Im Laufe seines Lebens veröffentlichte er mehrere Bücher wie zum Beispiel „Grundregeln der Kriminologie“ (Principles of Criminology) im Jahre 1939. Darüber hinaus wurde er 29. Präsident der amerikanisch soziologischen Gesellschaft. Im Alter von 67 Jahren starb der Soziologe am 11. Oktober 1950.
Die Theorie der differentiellen Assoziation entstand ebenso wie die Subkulturtheorie aus der so genannten Chicagoer Schule[1].
Sutherlands Theorie wird häufig auch „Theorie der differentiellen Kontakte“ oder „Theorie der differentiellen Lernstrukturen“ genannt. Sie wurde 1939 von Sutherland aufgestellt, später modifiziert (abgeändert) und von seinem Schüler Donald R. Cressey erläutert und kritisch weitergeführt. Sutherlands Ansatz geht davon aus, dass kriminelles Verhalten ebenso erlernt werden kann, wie normgerechtes Verhalten. Er selbst sieht abweichendes Verhalten als ausgesprochen soziologisch an und war deshalb sehr bemüht, soziologische Aspekte mit in seine Theorie einzubinden. Seine Theorie hat u.a. zum Zweck, sich von statischen oder sogar unveränderbaren Beziehungen zwischen abweichendem Verhalten und Persönlichkeitsmerkmalen zu distanzieren.
Er zielt in seiner Theorie darauf ab, die unterschiedliche Verteilung der Kriminalitätsraten - z.B. in verschiedenen Schichten - zu erklären. Zudem versucht er den Lernprozess („Lern- und Prozesscharakter“) zu erfassen, durch den eine Person kriminell wird.
Im Kern meint die Theorie die Kontakte mit abweichenden und nicht abweichenden (differentiellen) Verhaltensmustern, die dafür entscheidend sind, inwieweit man diese Muster annimmt. Es geht also nicht um den bloßen Kontakt zu Personen mit non-konformen Verhalten, da diese genauso gut konformes Verhalten aufweisen können.
2.2. Vorraussetzungen für abweichendes Verhalten
Welche individuellen Vorraussetzungen bestimmen das Auftreten abweichenden Verhaltens? Das ist zum einen die Lebensgeschichte, die aufgrund entsprechender Kontakte bestimmte Neigungen und Widerstände verursacht. Zur Lebensgeschichte gehören:
- Persönlichkeitsmerkmale (z.B. extrovertiert - introvertiert)
- soziale Verhältnisse (z.B. Wohngegend, Schicht) und
- Inhalte der Lernprozesse (Beherrschung eines bestimmten Verhaltensrepertoires)
Aber auch die aktuellen Umstände, die für den Einzelnen in einer konkreten Handlungssituation von Bedeutung sind, gehören mit zur Lebensgeschichte. Demnach ist es dem Täter bei der aktuellen Situation wichtig, ob er die Situation als günstig erachtet, die Tat zu begehen.
Zum anderen gibt es die ‚differentielle Organisation der Gesellschaft’ als eine weitere gesellschaftliche Vorraussetzung für abweichendes Verhalten. Sie gibt dem Einzelnen die Möglichkeit, kriminelle Verhaltensformen zu lernen - auch „konkurrierende Situationsdefinitionen“ genannt. Ein mögliches Beispiel für konkurrierende Situationsdefinitionen lautet wie folgt: Eine Person betritt ein Geschäft - weit und breit ist kein Verkäufer zu sehen. Beide Personen definieren dieselbe Situation unterschiedlich. Die erste Person sagt: Ich gehe in Laden und bezahle für die Ware. Dagegen die zweite Person folgende Interpretation der Situation hat: Hier besteht die Möglichkeit, die Ware einfach zu klauen und ich brauche nicht dafür zu bezahlen.
2.3. Die zentrale These von Sutherland
„Eine Person wird dann delinquent (straffällig), wenn Gesetzesverletzungen begünstigende Einstellungen gegenüber den Einstellungen, die Gesetzesverletzungen negativ bewerten, überwiegen“.
Mit anderen Worten, eine Person wird straffällig, wenn das EINE im Vergleich zum ANDEREN überwiegt. Ein Übergewicht an Kontakten mit abweichenden Verhaltensmustern führt Gesetzesverletzungen herbei. Entscheidend sind demnach bestimmte Einstellungen/Motive, die aufgrund bestimmter Kontakte (konform/non-konform) entstehen. Überwiegend non-konforme Kontakte führen zu entsprechenden Einstellungen der Person, was wiederum ein konkretes Handeln (Gesetzesverletzungen) nach sich zieht.
3. Die 9 Thesen von Sutherland
Sutherland hat die allgemeinen Ursachen und Prozesse, die zu kriminellem Verhalten führen, in 9 Thesen zusammengetragen:
1. These: „Kriminelles Verhalten ist erlerntes Verhalten.“
Das bedeutet, kriminelles Verhalten ist nicht veranlagt oder vererbt. Ein jeder kann es erlernen. Zum Beispiel: Robert Steinhäuser - Schüler und Amokläufer am Gutenberggymnasium - war nicht von Geburt an kriminell.
2. These: „Kriminelles Verhalten wird in Interaktion mit anderen Personen in einem Kommunikationsprozess gelernt.“
Sutherland konzentriert sich dabei auf Interaktionen innerhalb der Familie und auf die Kommunikation innerhalb von peer-groups[2]. Kommunikation ist hier als verbale und non-verbale, direkte und indirekte Kommunikation zu verstehen. Ein Beispiel: Ein Jugendlicher hat ein hohes Maß an indirekter Kommunikation, wenn er viel Fernsehen schaut und Computerspiele spielt.
3. These: „Kriminelles Verhalten wird hauptsächlich in intimen persönlichen Gruppen gelernt.“
Andere Kommunikationsmittel (sog. Massenkommunikationsmittel) wie Film, Fernsehen, Zeitung spielen für Sutherland - anstelle von Gruppenkontakten - eine vergleichsweise geringe Rolle bei der Entstehung kriminellen Verhaltens. Festzuhalten ist, dass Nichtkriminelle auch kriminelles Verhalten zeigen (Schauspieler in Gangsterrolle) können. Aber auch Kriminelle sind in der Lage, konformes, gesetzestreues Verhalten an den Tag zu legen (Bankräuber, der mit erbeutetem Geld Raten für die Waschmaschine bezahlt). Deshalb sind die Kontakte mit abweichenden Verhaltensmustern von so großer Bedeutung.
4. These: „Das Erlernen krimineller Verhaltensweisen schließt folgende Aspekte ein:
a. Das Lernen von Techniken zur Ausführung des Verbrechens, die manchmal sehr kompliziert, manchmal sehr einfach sind.
Die Entschärfung einer Alarmanlage oder Umgang mit technischen Hilfsmitteln wie z.B. dem Dietrich, können hier als Techniken zur Ausführung des Verbrechens angeführt werden.
b. Die spezifische Richtung von Motiven, Trieben, Rationalisierungen und Attitüden.“
Mit Attitüden sind die Einstellungen bzw. die innere Haltung gemeint. Als Rationalisierungen versteht man in diesem Kontext nachträgliche Rechtfertigung für ein Verhalten, das aus triebhaften oder irrationalen Motiven erwachsen ist. So viel wie möglich Nutzen ziehen und so wenig wie möglich dafür tun müssen, könnte ein Beispiel für ein Motiv sein. Darüber hinaus könnte der Nervenkitzel beim Klauen in einem Supermarkt ein Merkmal für Triebe darstellen.
5. These: „Die spezifische Richtung von Motiven und Trieben wird gelernt, indem Gesetze positiv oder negativ definiert werden.“
Das bedeutet, dass die Gesellschaft eine gewisse Offenheit und Vielfalt in Bezug auf die Interpretation von Gesetzen zulässt. Mit Offenheit und Vielfältigkeit sind gemeint, dass es sowohl straffälliges als auch nicht straffälliges Verhalten gibt. Der Betroffene steht somit in einem Konflikt zwischen positiver und negativer Definition der Gesetze bzw. in dem Konflikt, sich unrecht oder rechtens zu verhalten. Das für das Handeln der Menschen die Definition der Situation entscheidend ist, nennt man das sog. „Thomastheorem“ von W. I. Thomas. „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ So lautet Artikel 2 im Grundgesetz. Wenn jedoch eine Person in der Nacht Lackschäden an Autos vornimmt, weil er dies als ein Stück persönliche Freiheit ansieht, verhält er sich in Bezug auf das Gesetz non-konform.
6. These: „Eine Person wird delinquent infolge des Überwiegens der die Verletzung begünstigenden Einstellungen über jene, die Gesetzesverletzungen negativ beurteilen.“
Diese These entspricht der Zentralaussage der differentiellen Assoziation. Straffälligkeit tritt dann ein, wenn entsprechende Milieubedingungen vorliegen. Dabei werden die negativen Interpretationen in Bezug auf eine Situation gegenüber den positiven überwiegen. Die Person interpretiert also Gesetze negativ, erachtet gewisse Vorschriften als sinnlos und verletzt deshalb dieses. Diese These wurde angezweifelt, da es auch ohne diese Konstellation zu abweichendem Verhalten kommen kann. Beispiel: Eine Person A, die sich in der Regel konform verhält, wird in Gegenwart einer anderen Person B, die sich in der Regel non-konform verhält, beeinflusst. Das heißt, dass Person B auf Person A einen schlechten Einfluss ausübt. Normalerweise würde Person A nicht klauen, aber für Person B tut sie es.
7. These: „Differentielle Kontakte variieren nach Häufigkeit, Dauer, Priorität und Intensität.“
Sutherland erkennt, dass differentielle Kontakte nicht nur nach ihrer Häufigkeit verschieden sein können, sondern auch nach Dauer, Priorität und Intensität. Priorität meint hier die zeitlich frühe Ansiedlung dieser differentiellen Kontakte. Die frühkindliche Sozialisation spielt dabei eine sehr große Rolle. So haben zum Beispiel kriminelle Verhaltensmuster in der Familie einen größeren Einfluss, als etwa der Besuch in einer Kneipe, in der überwiegend Kriminelle ein- und ausgehen. Die Nähe, sprich die Intensität ist demnach von großer Bedeutung.
8. These: „Der Prozess, in dem kriminelles Verhalten durch Kontakte mit kriminellen und antikriminellen Verhaltensmustern gelernt wird, umfasst alle Mechanismen, die bei jedem anderen Lernprozess auch beteiligt sind.“
Kriminell und antikriminell meinen hier wieder die differentiellen Kontakte konform / non-konform. Mit dieser These soll noch einmal betont werden, dass es sich um eine generelle Verhaltenstheorie handelt. Die Entscheidung darüber, ob eine Person abweichendes oder nicht abweichendes Verhalten gelernt hat, kann erst mit der inhaltlichen Bestimmung des Verhaltens festgemacht werden. Also nicht die Art und Weise wie ich etwas lerne sind Ursache für non-konformes Verhalten, sondern was ich lerne. Hier ein Beispiel: Vater klaut regelmäßig und lebt dies dem eigenen Kind vor. Das Kind selbst befindet Klauen aber für schlecht und ahmt dies dem Vater nicht nach, obwohl das Verhalten des Vaters quasi als Legitimierung des Klauens angesehen werden kann.
9. These: „Obwohl kriminelles Verhalten ein Ausdruck genereller Bedürfnisse und Werte ist, wird es nicht durch diese generellen Bedürfnisse und Werte erklärt, da nicht-kriminelles Verhalten Ausdruck eben derselben Bedürfnisse und Werte ist.“
So haben sowohl ein Wohnungsmakler als auch ein Dieb das Bedürfnis, Geld zu verdienen. Jedoch kann man mit diesem Bedürfnis beim Dieb nicht das abweichende Verhalten erklären.
White-collar-criminality“ („Weiße Kragen-Kriminalität“)
Neben den berühmten 9 Thesen führte Sutherland zudem den Begriff „White-collar-criminality“ - „Weiße-Kragen-Kriminalität“ - in die wissenschaftliche Diskussion ein. Mit diesem Begriff wollte Sutherland von dem Vorurteil wegkommen, dass kriminelles Verhalten allein in sozialen Milieus vorkommt. Diese Form der Kriminalität wurde von ihm wie folgt umschrieben: ‚Eine Straftat, die von einer ehrbaren Person, mit hohem sozialen Ansehen im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit verübt wird.’ Die Grundlage dafür bildeten empirische Arbeiten, die in den 70 größten Industrie- und Handelsgesellschaften der USA durchgeführt wurden. Circa 90% der von ihm untersuchten Gesellschaften konnten als „gefährliche Verbrecher“ angesehen werden, so z.B. angesehene amerikanische Aktiengesellschaften wie General Motors Corporation, General Electric Company. In der heutigen Literatur spricht man meist von „occupational crime“, so genannten „Berufsstraftaten“.
4. Kritik
Sutherlands Theorie ist nicht unumstritten, obgleich er auch auf eine Menge Zustimmung gestoßen ist. Die Beschreibung einzelner Kritikpunkte soll darüber hinaus zur zusätzlichen Verständigung Sutherlands Theorie beitragen.
Nennenswert ist Sutherlands eigene Kritik an dem Modell seiner Theorie der differentiellen Assoziation. Er selbst kommt zu dem Ergebnis, dass seine Theorie nicht ausreicht, da abweichendes Verhalten nicht auftreten muss, wenn die Möglichkeit gar nicht gegeben ist, Verbrechen zu begehen - z.B. wenn die Zugangschancen zu illegitimen Mitteln gleich null sind. Weiterhin räumt er ein, dass nicht allein durch kriminelle Kontakte auch kriminelles Verhalten verursacht wird. So muss zum Beispiel ein Aufsichtsbeamter in einer Strafvollzugsanstalt aufgrund seiner Kontakte zu den Häftlingen nicht automatisch abweichendes Verhalten an den Tag legen.
Sutherland machte sich zudem Gedanken darüber, ob er Persönlichkeitsmerkmale in seine Theorie mit aufnehmen sollte. Allerdings war er der Meinung, dass kriminelles Verhalten nichts mit der Persönlichkeit des Menschen zu tun hat. Problem hierbei: Da nicht jeder auf ein Umfeld gleich reagiert, wird die Person dementsprechend kriminell oder eben nicht.
Neben Sutherlands eigener Kritik gab es auch eine Reihe weiterer Autoren, die sich kritisch zu seiner Theorie äußerten. So heißt es unter anderem, dass die Schwäche der Theorie in ihrer Übervereinfachung liegt - es können keine individuellen Unterschiede in der Lernfähigkeit gemacht werden. Es wird nicht der gesamte Bereich der Kriminalität berücksichtigt. So lassen sich Trieb- und Affektverbrechen mit dieser Theorie nicht erklären.
Als eine weitere Schwäche wird die sehr mechanisch gedachte Konstruktion des Lernvorganges genannt. Die individuellen Unterschiede der Lernfähigkeit werden vernachlässigt. Die Frage, warum es überhaupt zu abweichenden Wertorientierungen und kriminellen Verhaltensmustern kommt, bleibt mit der Theorie von Sutherland unbeantwortet. Zudem lässt sich die Theorie empirisch kaum überprüfen, da die Vielfalt möglicher Kontakte der Personen viel zu weitreichend ist. „…Sutherland hat sich auf das Glatteis der Psychologie, Tiefenpsychologie und Psychopathologie begeben, ohne vorher das Schlittschuhlaufen gelernt zu haben. Nach Sutherland ist jedermann gleich lernfähig, ob er dumm oder klug, den Dingen zu- oder abgewandt, eine frohe oder trübe Natur ist[3] …“ - so ein Zitat von Mergen.
Mittlerweile ist Sutherlands Theorie durch moderne lerntheoretische Überlegungen überholt. Der Verdienst seiner Theorie trägt mehr historischen Charakter und liegt u.a. im Bereich der traditionellen Erklärung des Verbrechens[4].
5. ‚Die Theorie der differentiellen Gelegenheiten’ von Cloward & Ohlin
Diese Theorie baut auf der Anomietheorie, der Subkulturtheorie und auf Sutherlands Theorie der differentiellen Assoziation auf. Spezielle Anpassungsprobleme bei Unterschichten, auch „soziales Milieu“ genannt, werden bei straffälligen Jugendlichen als Entstehungsbedingungen gesehen. Als Lösung für das Problem der Anpassung wird von den Autoren die Kriminalität genannt. Motivation und Druck werden als notwendig nicht aber als hinreichend erachtet, um damit straffälliges Verhalten zu erklären. Wichtig für die Autoren ist zusätzlich der Zugang, der bei illegalen Mitteln gewährleistet sein muss, um abweichendes Verhalten ausüben zu können. In Hinblick auf den Zugang legaler Mittel muss berücksichtigt werden, dass diese nicht für alle Menschen in unserer Gesellschaft im gleichen Umfang verfügbar sind. So gibt es z.B. häufig schlechtere Bildungschancen für Angehörige des sozialen Milieus. Diese Einschränkung kann dazu führen, dass auf illegale Mittel zurückgegriffen wird. Aber auch diese Mittel sind wiederum nur begrenzt und abhängig von der sozialen Position verfügbar (Bsp. Kreditaufnahme, Konsumgüterbeschränkung aufgrund finanzieller Engpässe).
Sowohl für legales als auch für illegales Verhalten gibt es jeweils eine doppelte und milieugebundene Chancenstruktur. Ein Beispiel soll den Begriff näher erläutern:
1. Eine Person lebt im sozialen Milieu und verhält sich non-konform.
2. Eine Person lebt im sozialen Milieu und verhält sich konform.
Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, die doppelte Chancenstruktur auf eine vierfache zu erweitern:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung2-legale&illegale Mittel
Es gibt als erstes Personen, die sowohl zu legalen als auch zu illegalen Mitteln Zugang haben und beide in Anspruch nehmen. Beispiel: Geschäftsleute, die aufgrund ihrer Kenntnisse zur Steuerhinterziehung in der Lage sind und dies auch umsetzen. Weiterhin gibt es Personen, die über legale und illegale Mittel verfügen, aber nur legale Mittel einsetzen. Beispiel: Ein ‚Autonormalverbraucher’. Ein Jeder kann etwas in einem Geschäft mitgehen lassen, ohne zu bezahlen, ein Autonormalverbraucher nimmt aber in der Regel von diesem illegalen Mittel keinen Gebrauch. Als dritte Kategorie gibt es Personen, die keinen Zugang zu legalen aber zu illegalen Mitteln haben. Zum Beispiel: Eine Person die im Gefängnis sitzt und nur von Personen umgeben ist, die non-konformes Verhalten zeigen. Als viertes gibt es Personen, die weder Zugang zu legalen noch zu illegalen Mitteln haben. Zum Beispiel Rauschgiftsüchtige, da sie in ihrem Zustand keinen Zugang mehr zur Außenwelt haben.
Eine Lernstruktur und eine Struktur von Zugangschancen sind erforderlich, um illegale Mittel erfolgreich anwenden zu können. Lernstruktur bedeutet, dass eine geeignete Umwelt für die Aneignung von Werten und Fertigkeiten zur Verfügung steht. Zugangschancen meint die Chance zur Teilnahme an kriminellen Aktivitäten. Beispiel: Ein Koch, der keine Beziehung zu Dieben u. Einbrechern hält, ist diesbezüglich in einer eher ungünstigen Situation.
Stabile soziale Kontakte im negativen Sinne sind die Basis für den Zugang zu kriminellen Rollen. Weitere wichtige Faktoren sind ethnische Zugehörigkeit, Alter, Verwandtschaftsbeziehungen, Geschlecht und soziale Schicht. So erreichen Angehörige unterer Schichten kaum Positionen in Wirtschaft und Verwaltung und deshalb ist der Zugang zu illegalen Mitteln stärker ausgeprägt. Können Ziele nicht erreicht werden, kann die Ursache entweder beim Handelnden selbst oder in der Ungerechtigkeit des Sozialsystems gesucht werden. Letzteres gibt die Möglichkeit, sich vom geltenden Werte- und Normensystem zu distanzieren.
3 Arten von Ausprägungen subkultureller Verhaltensmuster
Die erste Ausprägung wird ‚kriminelle Subkultur’ genannt, wobei kriminelle Gangs immer dann am häufigsten auftreten, wenn
- in einem sozialen Bereich die Bedingungen für die Entstehung delinquenter Sub- kulturen vorliegen,
- die Jugendlichen mit kriminellen Erwachsenen integriert sind,
- sich sowohl kriminelle wie auch nicht-kriminelle Erwachsene gegenseitig unter- stützen,
- kriminelle Erwachsene über das Verhalten der Jugendlichen soziale Kontrolle
ausüben.
Die zweite Form subkultureller Verhaltensmuster wird von Cloward & Ohlin ‚Konfliktsubkultur’ genannt. Gewalt wird als rationale Lösung in der Gesellschaft gesehen und dient als Statussymbol. Dabei kommt es zu folgenden Entstehungsbedingungen:
- Gebiete, in denen Desorganisation herrscht.
- Soziales Milieu, wo zwischen Jugendlichen und kriminellen Erwachsenen keine enge Verbindung besteht.
- Ein Milieu, ohne Integrierung in konforme oder non-konforme Wertesysteme.
- Ein soziales Milieu, wo kaum soziale Kontrolle der Jugendlichen durch kriminelle Erwachsene besteht.
Die dritte und letzte Ausprägungsform ist die so genannte ‚Subkultur des Rückzugs’.
Sie ist durch Drogengebrauch gekennzeichnet, der durch die Erfolglosigkeit der Betroffenen sowohl bei legalen als auch bei illegalen Mitteln eintritt. Dabei wird unterschieden in ‚Prozesse des einfachen Versagens’ und in ‚Prozesse doppelten Versagens’. Dabei führt ein erneutes Scheitern in beiden Fällen zu Frustrationen.
6. Fazit
Als Ergebnis aller Theorien auf diesem Gebiet lässt sich folgendes festhalten: Jede Person in der Gesellschaft hat innerhalb einer Gruppe und darüber hinaus die Möglichkeit,
- sich an konformen o. abweichendem Verhalten zu orientieren
- sich mit konformen o. abweichenden Personen zu identifizieren
- abweichende o. konforme Gelegenheiten (Möglichkeiten) wahrzunehmen
- aufgrund von eigenen Reaktionen verstärkt konform o. abweichendes Verhalten anzunehmen
- oder aber Techniken der Neutralisierung zu entwickeln
Menschen können trotz gelungener Sozialisation kriminelles Verhalten ausüben. So genannte Neutralisationstechniken machen es demnach der Person möglich, bei Begehung der Tat die verinnerlichten gesellschaftlichen Normen auszuschalten[5].
Ob sich eine Person konform oder deviant verhält, hängt mit diesen Mechanismen zusammen. Hinzu kommt, dass jedes Individuum Prioritäten setzen wird. D.h., die einen neigen eher zu konformen, die anderen eher zu non-konformen Verhalten.
7. Literaturverzeichnis
a) Michael Bock, „Kriminologie“, 1. Auflage, 1995, Vahlen Verlag
b) Günther Kaiser, „Kriminologie“, 10. Auflage, 1997, Verlag: C. F. Müller
c) Siegfried Lamnek, „Theorien abweichenden Verhaltens“, 7. Auflage, 2001, Wilhelm Fink Verlag
d) Armand Mergen, „Die Kriminologie“, Eine systemische Darstellung, 3. Auflage, 1995, Verlag Vahlen
e) Jochen Niesing, „Kriminologie und Rechtspsychologie“, 1. Auflage, 1996, LIT Verlag
[...]
[1] Soziologische Theorieschule: Eine Bewegung von Wissenschaftlern, welche die Soziologie zu einer induktiven (allgemeinen) empirischen Wissenschaft fortbilden wollten.
[2] Gruppe von Jugendlichen, die sich in der Übergangsphase vom Kind in das Erwachsenendasein befinden.
[3] Armand Mergen, „Die Kriminologie“, Eine systemische Darstellung, 3. Auflage, 1995, Verlag Vahlen, S. 31
[4] Günther Kaiser, „Kriminologie“, 10. Auflage, 1997, Verlag: C. F. Müller, S. 286
[5] Jochen Niesing, „Kriminologie und Rechtspsychologie“, 1. Auflage, 1996, LIT Verlag, S. 52
- Quote paper
- Anja Klemm (Author), 2004, Sutherland - Theorien der differentiellen Assoziation, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/109074